Sch... auf Europa?
LITERATURHAUS / EUROPA DER MUTTERSPRACHEN
11/03/19 … schaut fast so aus... Wird die EU-Wahl zum Fanal des Traumes vom gemeinsamen Europa? Werden wir alle demnächst in Schutzhaft genommen (selbst der Friedlichste kann ja mal zornig werden) innerhalb historischer Grenzen, die wir - nach dem Vorbild des transatlantischen Polterers mit den gelben Haaren - in Stahlbeton gießen und um uns herum errichten werden?
Von Heidemarie Klabacher
„Quo vadis, Europa“, fragt daher das Literaturhaus mit seinem aktuellen Programm zur Reihe Europa der Muttersprachen. Wohin gehst Du? Gute Frage. Erzählt werden jedenfalls „wahre und erfundene Geschichten zwischen Traum und Albtraum“, sagt Tomas Friedmann, der das Format Europa der Muttersprachen 1995 erfunden und seither als jährliches Festival etabliert hat: „Zwölf Autorinnen und Autoren aus zwölf Ländern erzählen Geschichten zwischen Syrien und Russland, zwischen Bosnien und Litauen. Sie reden miteinander, stellen aus – und fragen nach ihrer Identität und der Identität Europas. Woher kommen wir? Und wohin gehen wir?“
Die Fragen brennen derzeit ohnehin allen unter den Nägeln, die nicht wollen, dass Anders-Denkende oder Anders-Ausschauende ausgegrenzt, schikaniert und verfolgt werden. Oder eingesperrt auf Verdacht. Niemand will das anlass-gesetzgebende Verbrechen von Dornbirn kleinreden: Das Versagen der Verantwortlichen gehört untersucht, der Schuldige vor Gericht. Aber ist „Freiheit“ wirklich nur mehr - je nach Standort - hinter oder vor Gitterstäben und Mauern möglich? Ist Europa wirklich nur mehr eine Utopie?
„Die europäische Literatur reflektiert mehr denn je Wirklichkeiten politischer Ratlosigkeit und die Auswüchse ökonomischer Interessen, aber auch die Erschütterungen des Ichs“, sagt Tomas Friedmann. Dennoch schaffe Literatur Gegenwelten „sprachgewaltig und poetisch, mit Phantasie und Humor“. Autorinnen und Autoren bauten Brücken zwischen Vergangenem und Zukünftigem, zwischen Ost und West, zwischen Erlebtem und Erfundenem. „Gelingt die Flucht in ein neues Europa?“ Gute Frage.
Eine Antwort gibt etwa Miljenko Jergović, dessen Vorfahren, mütterlicherseits schwabendeutsche Eisenbahner, nach Bosnien kamen: „Ich könnte stundenlang über die Verschiedenheit meiner Identität sprechen. Wenn ich nach Sarajevo komme, empfinde ich mich als Kroate. Ich verbringe die meiste Zeit in Zagreb. Hier aber fühle ich mich als Bosnier. Wenn ich nach Belgrad reise, nehme ich mich als etwas Drittes wahr. Und wenn ich in andern Ländern bin, etwa in Deutschland, empfinde ich mich als Jugoslawe. Nicht aus nostalgischen oder sentimentalen Gründen, sondern als Mensch aus einer vergangenen Welt.“ Miljenko Jergović, Jahrgang 1966, erzählt in seinem Tausendseitenroman Die unerhörte Geschichte meiner Familie, erschienen bei Schöffling & Co, beginnend mit der der österreichischen Okkupation 1878, endend mit den Folgen des Krieges im heutigen Sarajewo.
Die bulgarische Autorin Kapka Kassabova, Jahrgang 1973 lebt heute in den schottischen Highlands. In ihrem Buch im Vorjahr bei Zsolnay erschienenen Roman Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt reist sie zu verbotenen Orten ihrer Kindheit: „Ins alte Thrakien, dorthin, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen“. Bis 1989 war dieses Gebiet eine „verdunkelte, bewaldete Berliner Mauer“. Und jetzt? „Sie sieht die Wälder des Strandscha-Gebirges und menschenleere Dörfer in den Rhodopen, sie trifft Schmuggler, Wilderer und ganz normale Leute, die ihr Geschichten erzählen über Liebe und Tod, das Einst und das Jetzt.“
Welche Rolle spielt die europäische Idee für die Identität der Menschen und Nationen, fragt der ukrainische Bestseller-Autor Andrej Kurkow, Jahrgang 1961, in seiner ebenfalls 2018, bei Haymon, erschienen Kartografie der Freiheit: „Ein Paar zieht nach London, eines nach Paris, das dritte bleibt im Baltikum. Ob Metropole oder Provinz – die jungen Menschen erwarten von Europa mehr als Reisefreiheit und Telefonieren ohne Roaming-Gebühren. Sie mochten den europäischen Traum von einer besseren Zukunft zum Leben erwecken.
Und was ist mit denen, die Europa gar nicht haben will? Der syrische, heute in Salzburg lebende Autor Jad Turjman, Jahrgang 1989, beschreibt in seinem dieses Jahr erschienem Debüt Wenn der Jasmin auswandert die Geschichte seiner Flucht vom Orient in den Okzident.