Niemand ist Experte für seine eigene Biografie
LESEPROBE / SCHACHERREITER / WO DIE FAHRT ZU ENDE GEHT
03/09/15 Dora und Hannes lernen einander kennen, als sie noch an die Utopie der klassenlosen Gesellschaft glauben. Wir schreiben die Siebziger. Zwischen den beiden Studenten bahnt sich eine verquere Liebesbeziehung an. Die Wiederbegegnung nach dreißig Jahren konfrontiert die beiden mit den ramponierten Idealen ihrer Vergangenheit. – Hier eine Leseprobe.
Von Christian Schacherreiter
Weiche dieser Begegnung aus! Das war mein erster Gedanke, als ich sie wiedererkannte. Noch war die Gelegenheit günstig, denn Dora hatte mich nicht gesehen. Sie wartete auf den Linienbus. Ich kam soeben aus der Bäckerei, wo ich Salzgebäck für den Abend gekauft hatte. Ich stand im Türrahmen, ich hätte umkehren können, hätte mich unter dem Vorwand, auf einen Einkauf vergessen zu haben, an die Verkäuferin wenden und mit ihr plaudern können. Ich bin Stammkunde seit mehr als zwanzig Jahren. In der Zwischenzeit wäre der Bus gekommen, Dora wäre eingestiegen, und ich wäre wieder frei gewesen vom Vergangenheitsgespenst, das ich gerne auf dem Dachboden verstauben lasse oder im Keller vor dem Tageslicht schütze. Ich brauche keine Vergangenheit, die Gegenwart genügt mir, und
die Zukunft überlasse ich den Fortschrittsfuchtlern. Eine merkwürdige Haltung für einen Historiker? Nein. Ich spreche nicht von den Gegenständen der Wissenschaft, ich spreche vom Privaten. Ich bin Experte für regionale Kulturgeschichte, aber nicht für meine Biografie. Niemand ist Experte für seine eigene Biografie.
Weil ich nicht meinem ersten Schreckgedanken folgte, sondern einer stärkeren, möglicherweise verlockenderen Kraft, überquerte ich trotz des starken Frühabendverkehrs die Straße und sagte: „Hallo, Dora“. Hallo ist eine sehr dumme Grußformel. Trotzdem verwende ich sie immer öfter. Hallo geht mir mit ärgerlicher Selbstverständlichkeit über die Lippen, während ich mich für ein Grüß dich oder Servus sehr bewusst entscheiden muss. Meiner Erinnerung zufolge antwortete Dora auf mein „Hallo“ auch mit „Hallo“, beziehungsweise mit „Ja, hallo!“, auf diese Weise Überraschung signalisierend. Ihre Überraschung war für mich keine Überraschung, denn wir hatten uns seit dem 1. Mai 1977, 23.23 Uhr, nicht mehr gesehen, also seit dreiunddreißig Jahren, fünfundzwanzig Tagen, siebzehn Stunden und dreiundfünfzig Minuten.
Trotz dieser langen Zeitspanne, in der sich Menschen naturgemäß verändern, nüchtern gesagt: in der sie altern, hatte ich Dora sofort wiedererkannt. Ihr Gesicht war nicht das übliche Gesicht einer Vierundfünfzigjährigen, eher das einer Fünfundvierzigjährigen – biologischer Ziffernsturz sozusagen – und es war schön. Als wir damals, am 1. Mai 1977, im Streit aus -
einandergegangen waren, war Dora mit ihrem schönen Gesicht einundzwanzig Jahre jung gewesen. Verzichten will ich jetzt auf Betrachtungen darüber, dass ein an sich schönes, also mehr oder weniger zeitlos schönes Gesicht im Alter von einundzwanzig Jahren eine andere Art Schönheit zeigt als im Alter von vierundfünfzig Jahren, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass – wie in Doras Fall – dieses vierundfünfzigjährige Gesicht eher einem fünfundvierzigjährigen ähnelt. Verlieren wir uns nicht in Details. Es geht um Varianten des Schönen.