Im Abseits, nicht im Jenseits liegt das Paradies
LESEPROBE / LITERATURFEST / EINZINGER / EIN KIRGISISCHER WESTERN
27/05/15 Vom Hundertsten ins Tausendste und immer virtuos zurück auf den Punkt: „Die Fläche, die dieser Roman durchmisst, fließt auf allen Seiten ins Unendliche hinaus, und überall spielt das Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen.“ Ein Pulver aus kurz in warmer Milch eingeweichtem und hinterher getrocknetem Igelkot und geschredderten Kreditkarten hilft dem Geist bei der Orientierung auf. Vielleicht. – Hier eine Leseprobe.
Von Erwin Einzinger
Zähne
… Was das menschliche Abenteuer der Zweisamkeit betrifft, haben sich im Lauf der Zeit dermaßen viele Ansichten und Interpretationen angesammelt, daß es langweilig wäre, ein weiteres Mal darauf einzugehen. Feststeht: Ob zwei Leute sich bei einem Lederhosenball oder vielleicht im Warteraum eines Zahnarztes kennenlernen, ob sie einander erstmals an einem kalten Novemberabend vor einem innerstädtischen Punschstand begegnen, in der Bar eines Kreuzfahrtschiffs oder in einem reichlich verstunkenen Fitnesskeller, spielt bestenfalls Jahre später eine Rolle, wenn die Zeit für einen Lebensrückblick gekommen ist oder irgendwelche Bekannte in launiger Stimmung sich einmal bemüßigt fühlen zu fragen, wie lange man denn
nun eigentlich schon zusammen sei. Ungewöhnlich mag in solch einem Fall sicherlich die Antwort jenes Paares sein, das darauf sagen könnte: „Ach ja, lang ist’s her, und wir sind uns tatsächlich zum ersten Mal bei einem Goldwaschkurs in den Schweizer Bergen begegnet.“
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Bei etlichen Stämmen der nordamerikanischen Prärieindianer war es ein gewichtiges Signal, wenn ein Mann einer Frau einen Platz zum Übernachten in seinem Zelt anbot. Ähnliches gilt durchaus auch für den Trupp von Goldwaschkursteilnehmern, die ihr Camp in den Bergen aufgeschlagen hatten und sich mehrere Tage hintereinander mit den Grundlagen jener seltsamen Beschäftigung befassen wollten, bei der es darum geht, stundenlang in gebückter
Haltung kleinere Mengen von Flußsand im eiskalten Wasser in einer Schüssel zu schwenken in der Hoffnung, dass früher oder später auch ein paar Körnchen Gold darunter sein mögen. Doch nicht einmal mit purem Gold aufzuwiegen ist wohl die besagte Freundschaftsgeste, jemandem einen Platz in seinem Zelt anzubieten, denn sie beinhaltet in Wahrheit sehr viel mehr als bloß das Angebot eines vor Wind und Wetter geschützten Platzes zum Ausruhen.
Es ist aber zweifellos ebenso ein Zeichen der Zuneigung und zugleich eine Art von Beschwörung, wenn eine Frau einem Mann eine Schürze schenkt, auf welcher in altmodischen Lettern zu lesen steht: Küß mich, ich bin der Küchensklave! Und es ist gut vorstellbar, daß schon unmittelbar nach der Übergabe eines solchen Geschenks vorsichtig am Nacken der Schenkenden geknabbert wird in der Absicht, Dankbarkeit auszudrücken und körperliche Nähe herzustellen.
Melodramatische Szenen, die auf vergleichbare Verhaltensmuster verweisen, sind auch im Unterhaltungsfilmgenre recht beliebt, und es scheint keine Rolle zu spielen, wie doof die Handelnden dabei aussehen mögen. In einem zum Teil in den Wäldern auf der Insel Java gedrehten Film etwa endet ein Treffen zweier offenbar füreinander Bestimmter, nämlich einer im Dschungel aufgewachsenen indonesischen Rotkreuzhelferin und eines reformierten Geistlichen aus den Niederlanden, zuguterletzt auf dem Küchenboden, und über den Köpfen der sich erregt hin und her Wälzenden baumelt ein Geschirrtuch, auf welchem eine Schildkröte auf Rollschuhen abgebildet ist … Ja, man staunt, was munteren Filmemacherinnen bisweilen so alles einfällt!
Wenn zwei Menschen für kurze Zeit miteinander verschmelzen, hören sie kein Hundegebell mehr und keine Kirchenglocken, keine Sirenenprobe der Freiwilligen Feuerwehr und keinen Radiowecker, auch keinen Zugposau-nisten, der in einiger Entfernung am Flußufer stehen mag, um Tonleitern zu üben. Nicht einmal die heutzutage meist elektronisch eingespeisten und verstärkten Rufe eines Muezzins, die zum Gebet auffordern, dringen vermutlich an
ihr Ohr. Stattdessen hören und spüren sie vielleicht umso deutlicher des anderen Herz pumpern, das sich erst Minuten später einigermaßen beruhigt. Dies wahrzunehmen und zugleich zu merken, wie auch Atmung und Gedanken langsam wieder zurückfinden zu einem Regelmaß, gehört zum Leben wie Tanz und Gesang oder wie Geben und Nehmen.
Eine tüchtige Berlinerin, die sich vor fast zweihundert Jahren einmal vom Geheimrat Goethe ein wenig den Kopf verdrehen lassen haben soll, schrieb daraufhin mit schöner Handschrift in ihr Tagebuch: Da die Momente der Ekstase selten genug im Leben sind, so habe ich sie nicht vorübergehen lassen, sondern redlich genutzt.