Als ob es auf Geschichten ankäme
LESEPROBE / WONNEBERGER / GOETHEALLEE
06/11/14 Goethe selber hatte es damals auch gerad nicht leicht – und ist nach Italien geflohen. Der Held in Jens Wonnebergers Roman flüchtet aus der „Goethealle“ und einer ausgewachsenen Schreib- und Ehekrise ebenfalls auf eine Italienische Reise. „Wonnebergers Held ist von Berufs wegen ein guter Beobachter, auch wenn dieser Beruf ihn nicht gerade gut ernährt“, schrieb die Zeit-online.
Von Jens Wonneberger
Wenn möglich, vermeide ich es, so früh am Nachmittag über die Goetheallee zu gehen, was mit Goethe nichts zu tun hat, sondern mit Sabine, die von ihrem Bürofenster aus die ganze Straße überblicken kann und mir am Abend oft von ihren tagsüber auf der Goetheallee gemachten Beobachtungen erzählt, meist mit diesem merkwürdigen Unterton, aus dem ich heraushöre, dass die Geschichten doch auf der Straße lägen und es ein Leichtes sei, sie aufzuschreiben. Mach doch!, sagt ihr Blick. Als ob es auf Geschichten ankäme, denke ich, entscheidend ist, wie sie erzählt werden. Meist drehe ich dann den Spieß einfach um. Was machst du eigentlich den ganzen Tag?, frage ich sie mit dem latenten, mit einer Prise Neid gemischten Misstrauen des Freiberuflers gegen gesicherte Arbeitsverhältnisse, was sie natürlich sofort bemerkt und auf ihren, zugegeben nicht unerheblichen Anteil an unseren Familieneinnahmen verweist. Familie ist natürlich übertrieben, wir sind nur zu zweit.
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Ehrlich gesagt meide ich die Goetheallee auch zu anderen Tageszeiten. Der Grund ist die Buchhandlung Wohlgemuth, oder mehr noch mein Gefühl, gerade in der Nähe der Buchhandlung müssten mir die Passanten meinen Ärger darüber ansehen, dass dieser Laden meine Bücher nicht führt. Die Auslagen einer Buchhandlung ohne meine Bücher haben etwas Deprimierendes, aber hier, nur wenige Straßenecken von meiner Wohnung entfernt, ist das eine Provokation. Nur nachts, wenn ich aus Karls Kneipe komme und nicht mehr ganz nüchtern bin, bleibe ich manchmal vor dem erleuchteten Schaufenster stehen und spotte über die Bestseller, die glänzend wie polierte Grabsteine zwischen Trockenblumen und bizarren Totholzarrangements hinter der Scheibe stehen. Manchmal glimmen vor dem Schaufenster Räucherstäbchen in einer mit rotem Sand gefüllten Messingschale, und man kann die Buchhandlung an diesen Tagen schon aus einiger Entfernung riechen. Vor der Buchhandlung gilt ein Stück der Goetheallee als verkehrsberuhigte Zone, was ich gern auf Frau Wohlgemuths massigen Leib beziehe, den sie immer in weite, rote Kleider hüllt wie Rubens’ Diana bei der Heimkehr von der Jagd, züchtiger zwar, aber immerhin ärmellos, die schwammig-bleichen Oberarme freigebend, das tiefe Dekolleté von einer weißen Perlenkette gerahmt und wallend wie ihr hennarotes Haar. Ich sollte ihr vielleicht die Schnelle-Nummer übermitteln, von einem Herrn Wohlgemuth jedenfalls weiß ich nichts, schon gar nichts von einem kleinen malenden Epigonen des großen Niederländers. Die Kunstgeschichte wird also auf Frau Wohlgemuths gewichtigen Leib verzichten müssen, dafür sah ich sie einmal im Original auf einem Fahrrad, auf dessen schwerem Rahmen in zartem Schriftschwung das Wort Gazelle stand. Vermutlich weiß sie nicht einmal, dass ich schreibe, so wie ich nicht sicher bin, ob diese aufgetakelte Walküre überhaupt Frau Wohlgemuth ist oder nur eine ihrer Angestellten. Seit ich das Fehlen meiner Bücher bemerkt habe, und ich habe es sofort bemerkt, bestelle ich alles, was ich an Büchern brauche, über das Internet
Zum Glück reißt mich ein Geräusch, das jetzt aus einem der Häuser kommt – hat nicht eben dort gerade noch ein Kind geweint? –, aus meinen trüben Gedanken und versöhnt mich für einen Moment mit diesem Nachmittag. Anfangs ist es nur ein leises, rhythmisches Fauchen, das aber rasch immer schneller und lauter wird, in ein Rasseln übergeht, sich zu einem Scheppern steigert und dann ganz plötzlich nach einem letzten dumpfen Rattern wie mit einem kleinen Schrei erstirbt. Es erinnert mich an die Kindheit, wenn mein Bruder den riesigen Blechdeckel des Waschkessels auf den Fliesen in Drehung versetzt hatte und ich fasziniert zusah, wie er scheppernd am Boden wackelte. Noch bevor ich Mama sagen konnte, sagte ich wawa, ein Wort, das mit einigen, in sich steigerndem Tempo gesprochenen Wiederholungen das Geräusch am -treffendsten imitierte und mir in diesem Moment im Zusammenhang mit den in der Wohlgemuthschen Buchhandlung ausgestellten Büchern zu stehen scheint.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Müry Salzmann