In allen Schattierungen der Verzweiflung
LESEPROBE / MAX BLAUELICH / UNBARMHERZIGES GLÜCK
05/0914 Im Rumänien der Zwischenkriegszeit geboren, in Armut aufgewachsen und von den Kriegswirren nach Österreich gespült, kannte Frau Bertas Leben nur Demütigung, Schmerz und Elend. Jetzt lebt sie im Altersheim und breitete ihre Lebensgeschichte vor dem Ich-Erzähler aus. Und dessen Leben läuft ebenfalls alles andere als geradlinig. - Eine Leseprobe aus dem Buch "Unbarmherziges Glück", erschienen im Residenz Verlag.
Von Max Blaulich
Was mich im Asyl am meisten ärgerte, war das Geschmeiß. Ungehindert surrten die Fliegen durch die sperrangelweit geöffneten Fenster. Hinaus, hinein, hin und her, setzten sich auf die Kuchen, auf die Butter, auf Schweiß und Kot. Dabei kündigte sich ein massives Tief an! Die wackelnden Sessel vermehrten sich. Plötzlich stand dort einer, da einer, an den Wänden krochen sie dahin, versperrten den Weg, und es hätte mich nicht gewundert, wenn bald ein ganzes Stockwerk mit ihnen gefüllt worden und, gleich dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, der aufgestaute Sesselhaufen plötzlich als Lawine ins Erdgeschoss gekracht wäre, während draußen sich Tragödien abspielten. Leute stürzten mir nichts, dir nichts um, Revolutionen drohten auszubrechen, Walfische strandeten an einer Küste nach der anderen. Von den unguten Vulkanausbrüchen gar nicht zu reden. Der Zeiten Taumel schien sich genähert zu haben …
Jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, wird Frau Berta ihre verkrüppelten Finger zwischen die Lattenabstände der Sitzbank schieben, vor sich hin murmeln, von fremden Sternen oder fürchterlichen Sternschweifen träumen und nichts mehr von ihrer Krankheit spüren, die sie an den Abgrund des Lebens gedrängt hat. Kommt Apfel- und Zwetschkenbäume ehemals bäuerlicher Kulturen hielten sich verzweifelt an ihrem Platz, Flaschen, Abfall und Trümmer rostiger Räder staken im hohen Gras, ein zerbeultes Ringelspiel hatte sich über den Krieg hin in den Wiederaufbau gerettet. Zwei Hutschen an rostigen Ketten auch. Ein Glasscherbenviertel, wie ich es kannte und kenne, rund ums Gaswerk. Erzählte sie mir nicht, Skupien habe sogar im gleichen Wohnblock gewohnt, in einer jener Anlagen, die die Nazis noch 1944 aus dem Boden gestampft hatten, nur eine Haustür weiter? Skupien habe ich vor einiger Zeit kennengelernt. Frau Berta plauderte gerade mit ihm. Ich kam hinzu. Dabei stellte sie ihn mir vor. Er sei ins städtische Altersheim gekommen, um seinen Vater zu besuchen, so wie ich meine Tante aufsuchte. Die Frau Berta – so wünschte sie angesprochen zu werden – habe ich kennengelernt, weil meine Tante Rosa sich ein wenig mit ihr angefreundet hatte. Meine Tante Rosa war ebenfalls in Rumänien geboren, nicht weit entfernt vom Geburtsort der Frau Berta, wie sich bald herausstellte. Das war vielleicht der Ursprung ihrer Annäherung. Zurück zu Skupien. Offensichtlich kannte Frau Berta diesen Skupien ziemlich gut. Hie und da hatte er ihr ein Regal gebaut oder eine Tür hergerichtet, so gut es eben mit seinen verunstalteten Händen ging. Oft muss ich an diesen Menschen denken, wenn ich Frau Bertas Finger betrachte. Sie gleichen jenen, die sie dem Skupien angenäht haben, nachdem sie sie in Fetzen neben der Kreissäge aufgelesen hatten. Damals rollte der Lehrling Dario Nothegger seine Butterbrote aus dem Stanniol und wickelte nicht ohne Ekel die abgetrennten Finger darin ein, vergaß in der Aufregung, das Ei aus der Jausenbox herauszunehmen, verschloss sie zitternd, rannte, als das Rote Kreuz eintraf, zum Chauffeur, der die perforierte Aluminiumschachtel auf den Beifahrersitz schmiss, und, so Skupien heute, den Buben anfeuerte: »Tapfer, Burschi! Schön, Burschi! Sehr brav, die Rede aufs Umfallen, spricht sie so davon, als sei es die normalste Sache der Welt, und blickt den Rollstuhlfahrern kichernd nach. Warum? Ich weiß es nicht, oder vielleicht, weil manche so geschickt umkippen, als träten sie im Zirkus auf. Vielleicht werde ich es nie wissen. Eine Zeit lang war ihr, so beschrieb sie es mir einmal, jede Berührung ein Nadelstich, jedes Greifen eine Qual, jeder Neumond, jeder Wetterwechsel ein Tränenmeer. Ihre Finger erlitten, als sie noch halbwegs fühlten, auf das Schmerzhafteste die Stetigkeit innerlicher Zersetzungen, messerscharfe
Stiche, eine gegen Knöchlein und Seelchen gerichtete systemische Zerstörung. Viel zu langsam schritt die Gefühllosigkeit, gegen die ihre Abwehrkräfte bis zum Schluss kämpften, voran. Verdrehte Welt, dachte ich mir. Als wollte ihr Körper gegen den Verfall ankämpfen, indes ihre Psyche denselben herbeisehnte. »Endlich nichts mehr spüren«, sagte sie, »wissen Sie, die Krankheit dauert schon mehr als dreißig Jahre.«
Max Blaeulich: Unbarmherziges Glück. Roman. Residenz Verlag Salzburg/St. Pölten 2014. 240 Seiten. 23,90 Euro. Auch als e-Book erhältlich - www.residenzverlag.at
Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages
Max Blaulich präsentiert seinen neuen Roman Unbarmherziges Glück am Dienstag (9.9.) um 19.30 im Literaturhaus Salzburg