Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter
LESEPROBE / WALTER MÜLLER
25/01/20 Manchmal werden Geschichten von der Realität eingeholt. So ist es dem Salzburger Autor Walter Müller ergangen. In seinem im ersten Lockdown, im Mai 2020 im Tauriska Verlag erschienenen Essayband Alles ist so wie immer - nur du fehlst! beschreibt er den Salzburger Felssturz von 1669 und verknüpft ihn mit 9/11. Gottlob gibt’s im Haus der Stadtgeschichte nun nur Sachschaden...
Von Walter Müller
„Aus dem Schutte der Häuser, aus den Gewölben der Keller und dergleichen hörte man sehr viele Menschen winseln, heulen und um Hülfe schreyen. Allein es war ihnen nicht beyzukommen; die Steine waren zu groß, und noch größer die Furcht vor neuem Einsturze. Die Hälfte der Stadt war mit Kalkstaube überschüttet, und der Jammer der Einwohner war gränzenlos.“
Am Tag der großen Katastrophe, 11. September 2001, ein paar Stunden vor dem Inferno aus Feuer, Schutt und Schreien drüben in New York sitze ich zufällig gerade an einer kleinen Arbeit über die Häuser der Gstättengasse und lese bei Lorenz Hübner, dem Salzburger Stadtchronisten, vom großen „gräulichen Bergeinsturz“ am 16. Juli 1669, „nechsthin zwischen 2 und 3 Uhr in der Fruehe“.
220 Menschen sind damals in ihren Wohnungen zwischen dem Gstätten- und dem Klausentor zu Tode gekommen. Die einen gleich beim Einsturz der Häuser durch die tonnenschweren Steinbrocken. Die anderen bei ihren verzweifelten Rettungsversuchen. „Eine Menge Volks war herbeygelaufen, um zu retten, was zu retten war“, schreibt Hübner. „Und sieh! Plötzlich trennte sich ein anderes Felsenstück von mehr als 2000 Zentnern vom Berge los, und erschlug die Unglücklichen, die eben mit Hülfeleisten und Zusprechen beschäftiget waren.“
Einen halben Tag später: New York. Diese nicht mehr auszulöschende Fernsehbilderschleife: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Die ersten Zahlen: Tausende, Abertausende Tote. Ich kann mir die 220 toten Salzburger von damals nicht wirklich vorstellen; ich kann mir Tausende, Abertausende Tote in New York nicht vorstellen. Pure Zahlen. Vor meinen Augen läuft immer wieder und immer noch diese Wiederholung der Wiederholung: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Dazu der Lärm der Sirenen, die Schreie. Trotzdem bleibt alles Film irgendwie. Zum hundertsten Mal sieht man, wie verzweifelte Menschen vom brennenden Turm in den sicheren Tod springen. Und immer noch der Gedanke: Das sind Stuntmen, das ist Filmszenerie, alles kalkuliert, keiner kommt zu Schaden, am Ende.
Die Bilderflut hat sich festgehakt, rund um die Uhr: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Die Zahl der Toten schwankt, alles schwankt. Eigenartig, damals beim großen Bergsturz in Salzburg, als es noch keine Livesendungen aus Katastrophengebieten gab, hat die Nachricht vom Unglück auch ziemlich rasch die Runde, sogar ins Ausland gemacht. Es müssen sagenhafte Opferzahlen durch die damaligen Druckwerke gegeistert sein, weil schließlich von Salzburg aus ein offizieller Bericht nach Frankfurt eingeschickt wurde, zur endgültigen Klarstellung: 220 Tote.
Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Immer und immer wieder. Jede Zeitung, jede Rundfunk-, jede Fernsehstation kann im Sekundenbruchteil jemanden ausfindig machen, der gerade in New York war oder in diesem Augenblick in New York ist und aus erster Hand erzählen kann, was da wirklich passiert ist. „Wahnsinn – das Flugzeug, der Turm, der Feuerball! Die Sirenen, die Schreie, das Staubgewitter!“
Wir müssen unser Entsetzen sofort mit Wörtern auffüllen, möglichst vielen Wörtern, abertausenden Wörtern, Wortschleifen. Sonst würden wir verrückt werden. Bilderfluten: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Und Wortfluten: Terror, Rache, Gut gegen Böse. Tausend Expertenstimmen, Expertenkommentare, Expertenanalysen. Augenzeugen, Zeitzeugen. Eine Wolke aus Informationen, die aufstaubt. Und wenn sich die Wolke senkt, bleiben immer noch diese Bilder: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Präsident Bush spricht von Rache. Sein Außenminister vom Krieg. Geistliche sprechen von Gott, der die Fallenden mit seiner gütigen Hand auffängt. Da wird viel Fantasie und viel Vertrauen von uns verlangt.
Lorenz Hübner, der Salzburg-Chronist, der den großen Bergsturz an der Gstätten anno 1669 für uns festgehalten hat, schreibt: „Erzbischof Max Gandolph befand sich eben damahls im Schlosse Mirabell und sah diese gräuliche Trauerscene mit eigenen Augen an. Alle Hülfe, die er reichen konnte, war die Generalabsolution, die er aus den Fenstern ertheilte.“
Ich schließe die Augen, aber der Film lässt sich nicht stoppen: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter. Wiederholung um Wiederholung. Jetzt sehe ich, verschwommen genug, diese zweite „Scene“ vor mir. In meinem geliebten Salzburg im Jahre Schnee fallen die Felsbrocken aus der Mönchsbergwand, zerschmettern dreizehn Häuser, zwei Kirchen und 220 Menschen. Und ein paar hundert Meter entfernt, auf der anderen Salzachseite, steht der Landesherr, Fürsterzbischof Max Gandalph am Fenster seiner Residenz, schlägt das Kreuz, wieder und wieder und versucht damit den Toten eine Brücke in die andere Welt zu schlagen. Das ist alles, was möglich ist. Kreuzschlagen und Beten. Keine Tag-und-Nacht-Reportagen. Alles live und wahrhaftig.
Ich weiß schon: Das heute ist Terror, das gestern war Schicksal, Naturgewalt. Nicht zu vergleichen. Es geht mir einzig um die Toten. Hunderte oder Tausende. Und wie aus dem Schock so was wie Ergriffenheit wird. Wie sich das Herz endlich einschalten kann in diese Endloswiederholungen im Kopf: Flugzeug, Turm, Feuerball, Staubgewitter.
„Dem Hieronymus Leithner, Totengraber allhie“, lese ich in einer Chronik, „für 52 Personen, welche durch den Bergfall erschlagen und er begraben hat, für jede Person 30 Kreuzer entrichtet, mit diesem Vorbehalt, dass er jenige Personen, die etwan noch unter dem Berg gefunden werden mechten, zu begraben schuldig sein solle...“
Ein einziger Name, noch dazu der Name des Totengräbers, und die Tragik wird für mich fühlbar. Jetzt hört man im Dauerhorrorfernsehen einen Afro-Amerikaner, dessen Namen ich nicht kenne, ein Lied singen: „Amazing Grace“, die Friedenshymne. Ein anderer singt „Blowing In The Wind“ von Bob Dylan. Das ist so, als würde eine totenbleiche Skizze auf einmal Farben erhalten. Jetzt wird aus dem Schock Betroffenheit. Aus der Betroffenheit Rührung. Später dann wahrscheinlich Trauer. Nach dem Feuerball rücken die Lichter von Kerzen ins Blickfeld. Nach dem endlos wiederholten Um-Sein-Leben-Rennen kommt jetzt das stille Beieinanderhocken, die verschämte, erschöpfte, tröstliche Ruhe...
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Walter Müller: Alles ist so wie immer - nur du fehlst! Essays und Reden über das Leben und den Tod über Gott und die Welt. Tauriska Verlag, Neukirchen am Großvenediger, 2020. 224 Seiten, 20 Euro – www.tauriska.at
Bild: Peter Branner
Zum Interview mit Walter Müller in der DrehPunktKultur-Reihe „Nachgefragt“
Pietät in Schutzmontur