asdf
 

Tante Vilma

LESEPROBE / GEORG M. HOFMANN

23/10/20 Maria Hofmann. Unter diesem Namen kennt man die Gründerin und Leiterin der Hofhaymer Gesellschaft. Mit dem Zyklus „Alte und Neue Musik“ hat sie Aufführungsgeschichte geschrieben. Das literarische Alter Ego heißt Georg Hofmann. - Hier eine Leseprobe aus dem noch unveröffentlichen Roman Die Welt von morgen.

Aus Maria Georg Hofmann ist unlängst Georg Maria Hofmann geworden. „Erlöster Prinz“ titelte das Magazin Spiegel jüngst einen Artikel. Denn als solcher – eben Prinz und nicht Prinzessin – hat Hofmann sich Zeit seines Lebens gefühlt. Nun steht es auch korrekt im Reisepass. In seinem autobiografischen Roman „Der Auftritt des linkshändigen Dichters Alexander Galajda“ (1995 erschienen im Otto Müller Verlag) erzählt der jetzt 87jährige Autor und Musiker, von seinem Aufwachsen in Ungarn als doppelgeschlechtliche Person, die je nach Erfordernissen mal den einen, mal den anderen Vornamen nutzte, sich aber nicht weiblich fühlte. - Hier eine Leseprobe aus dem noch unveröffentlichen Roman Die Welt von morgen.

VON GEORG MARIA HOFMANN

Die Geburtstage, die Namenstage, die Hochzeitstage, die Todestage, die Taufen und Erstkommunionen. Diese waren in einer so großen Familie – sowohl Gyurika wie auch Dolores hatten je sechs lebende Geschwister, macht zwölf, dann, mit einer Ausnahme (Tante Rosa), die dazugehörigen Gatten bzw. Gattinnen, und bei einigen Ehepaaren auch Kinder: im Falle von Tante Ari zwei, ebenso bei Tante Paula – oft zu feiern. Bei dem einzigen Bruder von Gyurika, Julius, nur eine Tochter. Diese abnehmende Tendenz war kein Zufall. Als wir zum ersten Mal nach Fünfkirchen zu den Großeltern gefahren sind – Gyurika war sehr stolz auf mich, auch auf seinen neuen Stand als Familienvater, und wollte uns, Dolores und mich, seinen Eltern zeigen – fing die Sache so an: Gyurika sagte Dolores und mir, dass wir am Wochenende nach Fünfkirchen fahren werden, damit auch Annika (seine Mutter) mich kennenlerne. Apika (sein Vater) hat mich schon öfter gesehen, da er als Bahnhofsdirektor ständig herumfahren konnte. Erste Klasse.

Dolores war nicht begeistert und fragte herausfordernd, ob wir auch Erste Klasse fahren werden. Gyurika nahm solche Hiebe seiner Gattin leicht. Er grinste sein hintergründiges Grinsen: war dahinter Boshaftigkeit, sogar Sadismus, oder die Verlegenheit eines unreifen Schlingels, der versucht hat, die Rolle des Familienvaters zu spielen? „Unterwegs besuchen wir auch Vilma. Tante Vilma, weißt du“, sagte er mir töricht, „wird sich sehr freuen, dich zu sehen. Sie selber wünscht sich auch Kinder, aber der liebe Gott hat bisher“ undsoweiter. „Dafür ist sie aber sehr tüchtig, arbeitet im Gasthof und in der Fleischerei ihres unlängst verstorbenen Mannes. Auch ist sie durch ihre Pasteten berühmt geworden, welche sie mit Kalbshirn, Hühnerklein oder mit was immer füllt.“ Dolores meinte: mit Speiseresten. „Hauptsache, es schmeckt gut“, so Gyurika, und wir absolvierten in der Tat meine erste Bahnfahrt. Es war ein Bummelzug, wie von Dolores befürchtet, langsam, bei jedem kleinen Ort stehen bleibend. Drinnen bäuerliche Bevölkerung. Frauen mit großen Körben, in denen das Federvieh untergebracht war, welches sie auf den Markt brachten. Wenn der  Zug anhielt, wachten die Enten, Hühner und Gänse auf, sie gackerten vor sich hin und machten unheilvollen Lärm. Gyurika wusste, dass einige sich in der Enge des Korbes gebissen haben.

Bei Dombóvár wurde unser Zug auf ein Nebengleis geschoben. Der Beamte rief drei, viermal: Dombóvár! – ein mystischer Ruf in der Wüste. Nachher gingen die Lichter des kleinen Bahnhofs aus. Totale Dunkelheit. Ich glaubte, dass man uns jetzt ein für allemal vergessen hat.

Als im Morgengrauen ein Stoß zu spüren war, wachte ich auf. Ich sah Dolores’ beleidigtes Gesicht. („Nie wieder mit einem Bummelzug.“) Gyurika zeigte uns den Sonnenaufgang, wozu man an die andere Seite des Waggons gelangen musste, über die Hühnerkörbe kletternd. So sahen wir, Gyurika und ich, den Sonnenaufgang, nicht aber Dolores, die vor allem ihr aus „Kravattenseide“ geschnittenes Kleid nicht noch weiter ruinieren wollte.

Um sieben Uhr herum kamen wir in Komlo an, wo die besagte tüchtige Tante Vilma – siehe oben. Vom Bahnhof führte ein für Dolores unendlich scheinender, schmutziger, staubiger Weg in die Dorfmitte, wo wir Tante Vilmas Gasthaus vermuteten. Gyurika zeigte bald sehr stolz auf die einzige Kneipe des Ortes: Gefunden. „Was sagst du jetzt, Lorilein?“ Dolores sagte nichts, Gyurika stellte die zwei unsinnig schweren Koffer vor der Tür ab, er wischte seine Stirn. Unter den Achseln seines einzigen Sommeranzuges sah ich große dunkle Schweißflecken. Nun aber riss er sich – kofferlos erleichtert – zusammen und schob uns, seine Familie, durch den Windfang und dann durch die freischwingenden Flügeltüren in die Gaststube. Wir kamen überraschend, eine nicht nur in unserer Familie übliche Art des Verwandtenbesuchs, indem man unvorangemeldet reinplatzte. Tante Vilma war in der Gaststube allein und mit dem Ausfegen des Lokals beschäftigt. Gyurika schob seine Familie, also Dolores und mich, vor sich her. Er hatte sein kindisch grinsendes Gesicht in der sicheren Erwartung des höchsten Triumphes seiner mit dem Besen beschäftigten Schwester zugewendet: „Na, was sagst du jetzt?“, während er sich an den zwei Griffen der freischwingenden Türflügel hielt und sich vorwärts und rückwärts schwang. Der damit erzeugte Luftzug war das erste, was Tante Vilma richtig wahrnahm. Dolores wie auch ich waren ihr ja fremd. Sie schaute auf den albern schaukelnden Kerl in der Eingangstüre. „Gyurka, bist du es?“, schrie sie eher verärgert. Für uns war die Sache peinlich und wurde immer peinlicher. Tante Vilma behauptete, dass sie ihren Bruder schon aus dem Grunde nicht erkennen konnte, weil dieser vor fünf Jahren noch Haare auf dem Kopf gehabt hatte. Jetzt war da in der Tat eine Glatze mit ein wenig Tonsur rund herum. „In den fünf Jahren deiner Ehe sind dir alle Haare ausgefallen. Segne dich Gott. Und das hier ist deine Frau, eine anspruchsvolle Dame, was? Mich wundert nichts. Und das Kind? Du hast auch ein Kind schon. Donnerwetter. Und aus was, bitte?“ Dolores war bereits aus dem Lokal getreten. Sie sagte zwischen den Zähnen: „Komm, Gyurka, das genügt“, und sie selbst packte jetzt unsere beiden Koffer, die Gyurika vorhin vom Bahnhof zu dem Wirtshaus geschleppt hatte. Ich dachte, dass  Dolores eigentlich stärker sei als Gyurika, wieso musste dann Gyurika beide Koffer alleine hinschleppen. Aber weiter gab es keine Zeit, über solche Sachen nachzusinnen. Tante Vilma tobte wild geworden in ihrer Wirtshausstube. Ich verstand nur so viel, dass sie, wenn sie so einen Bengel wie mich durchs Leben schleppen müsste, diesen an die Wand klatschen würde, gleich nach der Geburt, damit der Schädel (mein Schädel) zerspränge und das Hirn (mein Hirn) daraus auf der Holztäfelung kleben bleiben würde. Wir (Gyurika und ich) ergriffen nun auch die Flucht, und mich hat der Auftritt der Tante Vilma bis heute immer wieder beschäftigt. Ich sah auch die an die Wand geflogene Hirnmasse und dachte, dass diese dann kraft ihres Gewichtes langsam herunterrutschen würde. und weil wir daheim oft Innereien, darunter auch Kalbshirn, aßen, konnte ich mir auch vorstellen, dass der Patzen sich von der Holzwand lösen und auf den frischgescheuerten Boden der Stube plumpsen würde und dass Tante Vilma sich so ärgern würde, dass sie diesen weißbraunen Brei (mein Hirn) mit einer Schaufel aufnehmen würde und aufgrund ihres eingeübten wirtschaftlichen Denkens mitten in der grausamen Aktion auf die Idee käme, dass zwischen Kalbshirn und Kinderhirn kein Unterschied sei, jedenfalls kein wahrnehmbarer für ihre Gäste, die zwischen den zwei Arten von Massen kaum eine Geschmacksabweichung feststellen würden, und wenn ja, dann eher positiv. Und sie würde am wenigsten riskieren, wenn sie das Kinderhirn in kleine Pastetchen füllen würde, die ja ihre Spezialität waren. So konnte der Gast keinen Blick auf die Hirnteile werfen – auch der Amtsarzt nicht – sollte es möglich sein, beim Essen auf eine solche Idee zu kommen und die Speise mit Sorgfalt auf ihre Substanz zu untersuchen. Gyurika und ich erwähnten Dolores gegenüber diesen Höhepunkt des Ausbruches von Tante Vilma nicht. Gyurika bildete sich leichtsinnig ein, dass ich die Sache mit dem Hirn, wenn auch gehört, doch nicht verstanden hätte.

Später, nach Monaten, im Bett erzählte er es flüsternd seiner Gattin ... Die Erwachsenen denken immer, dass die Kinder nicht nur blöd, sondern auch noch schwerhörig sind. Ich lag auf dem am Fußende des Ehe-Doppelbettes quergestellten Sofa und konnte nicht immer schlafen.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

Über Georg Maria Hofmann – www.m-g-hofmann.at
Bild: Stadtarchiv Salzburg/Silvia Panzl-Schmoller

 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014