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Reiseführer für einen blinden Fleck

LESEPROBE / BIANCA KOS / DAS MUNDSTÜCK

14/02/20 Ein Reiseführer für eine Stadt, die kaum jemand kennt? Charkiw in der Ukraine ist ein blinder Fleck im weltweiten Tourismus. Warum dann ein Reiseführer mit Geheimtipps? Eine österreichische Fremdsprachenlektorin pafft Schischas in Kaffeehäusern, jagt mit dem kaputten Fahrrad hügelan und hügelab quer durch die Stadt und erarbeitet sich ihren eigenen überwältigenden „Reiseführer“, der Lust macht, eine ferne, fremde, spröde Stadt zu besichtigen. – Hier eine Leseprobe.

VON BIANCA KOS

Serhij

Sag bitte U! Ja, so ist es richtig. Aber wenn du ein Ü sprechen willst, dann musst du die Lippen spitzen. Noch spitzer! So: Üüüü! Wenn die Lippen nicht spitz genug sind, bleibt es ein U!

Wenn du bei einem ukrainischen Oligarchen und österreichischem Honorarkonsul zum Tee eingeladen bist, führe die Tasse vorsichtig zum Mund, schlürfe lautlos die heiße Brühe, höre zu, ohne zu unterbrechen, lächle fortwährend und nicke hin und wieder, wirf ab und zu ein passendes Wort oder einen zustimmenden Kommentar ein, nimm den bemalten Folklore-Teller mit entspannter Würde entgegen, bedanke dich und geh beschwingt nach Hause. Fördere die Mikroökonomie und kaufe um Mitternacht am Ausgang der Metro der Apfelfrau noch ein Säckchen Äpfel ab, schließe die Stahltür zu deiner Kommunalka-Wohnung im Stalinka-Stil auf, lass dich müde ins Bett fallen und versuche zu schlafen. Dazu musst du deinen Kopf leer machen, befreien und loslösen von all dem, was du in den vergangenen Tagen und Wochen gesehen hast. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn du bist, bevor du beim Oligarchen warst, zufälligerweise am Rathaus vorbeigegangen und hast gesehen, wie man den Bürgermeister der Stadt in sein Dienstauto getragen hat. Rasch haben zwei mächtige Bodyguards den Rollstuhl durch ein Spalier von Aufpassern und Ordnungshütern in die schwarze, gepanzerte Limousine gehoben, die Autotür zugeschoben und den Wink zum Abfahren gegeben. Dann kommt dir dieses Unglück in den Sinn, bei dem die junge Natalja Zaitschenka im vergangenen Herbst an einer Kreuzung mit Vollgas bei Rot über den Zebrastreifen gerast war und dabei sechs Menschen, darunter drei junge Mädchen, getötet und weitere dreiundzwanzig Passanten schwer verletzt hatte. Bis in das folgende Frühjahr hinein brannten an der Unglücksstelle unzählige Kerzen. Blumen und Kränze bildeten mächtige Gebirgslandschaften, auf deren Gipfel man die Fotografien der Verunglückten gelegt hatte. Im Februar wuchs durch wochenlange Schneefälle der Unglücksort zu einem vergletscherten Alpenhauptkamm an, welcher den Gehsteig völlig unpassierbar machte und die Fußgänger ihn nur auf einem Umweg über die Straße passieren konnten. Die Lenkerin ist die Tochter eines Oligarchen. Das gab Anlass zu gewissen Bedenken. Es gab nämlich noch einen ganz zufällig in das Geschehen verwickelten Autofahrer, der genau zum selben Zeitpunkt über diese Kreuzung fuhr und frontal mit dem väterlichen Oligarchen-SUV zusammengekracht wäre, wenn er sein Auto nicht im letzten Augenblick gegen die Hauswand gefahren hätte. Der Autofahrer hatte eine Stopplinie überfahren, allerdings war diese Stopplinie angeblich erst in der Nacht nach dem Crash aufgebracht worden. Der mutmaßlich prorussische Bürgermeister war genau vor einem Jahr bei einem Attentat durch Schüsse in den Rücken schwer verletzt worden und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages

Bianca Kos: Das Mundstück. Roman. Otto Müller, Salzburg, Wien 2019. 156 Seiten, 20 Euro. Auch als E-Book erhältlich - www.omvs.at
Bild: Otto Müller Verlag/Assam

 

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