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Realität ist dynamisch

BUCHBESPRECHUNG / SCHMIDT / DIE WELT GEGENÜBER

03/09/21 Das Paradoxe an dem Buchtitel ist, dass es eigentlich weniger um die Welt „gegenüber“ geht als vielmehr um die Welt „innendrin“. Besser gesagt: Wie man das, was man sieht, wahrnimmt, hängt stark von der seelischen Verfassung ab. Und umgekehrt wird das Befinden von der Umwelt beeinflusst. Eva Schmidts Erzählungen beeindrucken mit ihrer Vielschichtigkeit.

Von Sandra Eder

„Things you did. Things you never did. Things you dreamed. After a long time they run together.“ Mit diesem Zitat des amerikanischen Schriftstellers Richard Yates leitet Eva Schmidt ihr Prosawerk Die Welt Gegenüber ein. Die zwölf kurzen Erzählungen, erschienen bei Jung und Jung, geben einen Einblick in die Gedanken verschiedener Menschen. Das besagte Zitat drückt in wenigen Worten das aus, was das Buch zeigt: Realität ist dynamisch und von der subjektiven Wahrnehmung des jeweiligen Individuums abhängig.

Die Erzählungen haben keinen kohärenten, zielgerichteten Handlungsstrang, es sind eher Ketten von flüchtigen Eindrücken und dadurch hervorgerufenen Assoziationen der Charaktere. Weder gibt es eine Haupthandlung noch eine Hauptfigur.

Eva Schmidt nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise durch verschiedene Köpfe. Es sind vorübergehende, oft undeutliche Impressionen von Menschen, in deren Gedankengänge sich ihre tiefsten Wünsche und Ängste äußern. Die Figuren sind Nachbarn, Mütter, Liebhaber, Halunken, Fremde. Sie interagieren miteinander oder beobachten sich. Es können konfliktgeladene Beziehungen, flüchtige Bekanntschaften, gute oder schlechte Begegnungen sein. Kaum ist es möglich, die vielseitigen Perspektiven auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Doch ähnlich ist ihnen alle, dass es immer um die geistige und emotionale Reaktion der Protagonisten auf die wahrgenommene Umwelt geht. Und das bedeutet, dass Reize, Vorstellungen und Emotionen ineinander verschwimmen und zu beweglichen, uneindeutigen Bildern werden.

Der Handlungsverlauf ist durch Assoziationen der jeweiligen Figur motiviert. Etwa führt eine Wahrnehmung zu einem Gedanken, der zu einem Verlangen führt, wodurch eine Emotion entsteht und so weiter. In der ersten Erzählung Die Nacht beobachtet ein Ich-Erzähler die Familie im Haus gegenüber. Er steht am Balkon, raucht Zigaretten und versinkt in Gedanken. Dabei vermischen sich die die Gefühle und Vorstellungen des Protagonisten mit dem, was er sieht: „Immer wieder tauchte das Gesicht der Frau aus dem gegenüberliegenden Haus vor mir auf, und ich sah es in rasender Geschwindigkeit alt werden. Ihre schönen Lippen wurden schmal und hart, ihre glänzenden schwarzen Augen fahl und ausdruckslos. Es war wohl eine Art Mitleid, das mich nicht einschlafen ließ. Mitleid mit dem jungen Paar im gegenüberliegenden Haus, mit mir selbst...“ Der Ich-Erzähler bringt durch das Beobachtete zum Ausdruck, was ihn beschäftigt. Er projiziert seine innere Verfassung auf die Außenwelt.

In der achten Erzählung, Lear, geht es um eine gestörte Mutter-Tochter-Beziehung. Erzählt wird aus der Perspektive der alleinerziehenden Mutter, wie das eigene Kind, mit dem sie unter demselben Dach wohnt, ihr fremd vorkommt: „… als wäre sie nicht ihr Kind, sondern lediglich Gast in ihrem Haus.“. Die Tochter kommt eines Nachts betrunken nach Hause und schläft nackt auf dem Sofa ein. Die Mutter wäscht kommentarlos die nach Erbrochenem riechende Kleidung und denkt über den Alkoholkonsum ihrer Tochter nach. Sie bekommt dabei selbst Lust auf ein Glas Wein, holt sich eines und trinkt die restliche Nacht. Hier hat das Beobachtete – die betrunkene Tochter – in der Beobachterin eine Assoziation hervorgerufen und zum Handeln gebracht. Die Mutter zeigt Reaktion auf das Verhalten ihrer Tochter, allerdings eine Trotzreaktion. Statt die Tochter oder sich selbst mit dem Vorfall zu konfrontieren, zieht sie sich in ihren persönlichen Raum zurück und versteckt sich hinter Beschwichtigungen und fraglichen Bewältigungsmechanismen.

Es sind meist Figuren, die sich in irgendeiner Weise einander fremd sind. Und das bekommt man als Leser zu spüren. Ihnen fehlt eine stabile Kommunikationsbasis untereinander, stattdessen fressen sie vieles in sich hinein. Das ist das Besondere an diesen Erzählungen: Es werden einem ebendiese nicht offensichtlichen inneren Konflikte unterschiedlicher Individuen nähergebracht.

Die verschiedenen Perspektiven der Charaktere werden sehr „roh“ wiedergegeben. Der Schreibstil ist trotz aller Subjektivität sehr beschreibend und nicht wertend. Durch die oft vagen Beschreibungen und die Überschneidung zwischen Außen- und Innenwelt werden die Gedanken des Lesers auf fantasievolle und zugleich meditative Weise angeregt. Das Buch animiert wunderbar zum Philosophieren. Man spürt regelrecht die Dynamik zwischen menschlichen Sinneseindrücken, Gedanken und Gefühlen. Es deutet an, dass die Wirklichkeit nichts Greifbares, nichts Beständiges und nichts Absolutes ist, dass einige Dinge nicht so sind, wie wir denken und andere Dinge nur deswegen so sind, wie sie sind, weil wir es uns so denken.

Eva Schmidt: Die Welt Gegenüber. Erzählungen. Verlag Jung und Jung Verlag, Salzburg. 224 Seiten, 22 Euro - jungundjung.at
Bild: Jung und Jung / privat

 

 

 

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