Werd bloß nicht, wie deine Großmutter
BUCHBESPRECHUNG / HELFER / DIE BAGAGE
12/01/21 „Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst wenn man ein Drama daraus macht, herrscht Ordnung.“ Die Autorin Monika Helfer hat kein Drama aus den Erinnerungen ihrer Familie gemacht, sondern einen Roman.
Von Johanna Wimmer
Im Roman Die Bagage zeichnet Monika Helfer ein Bild ihrer Familie. Sie nimmt die Leserinnen und Leser mit in die Welt im „Wald“, in ein kleines Tal in Vorarlberg, wo ihre Geschichte, zur Zeit des Ersten Weltkriegs mit den Großeltern Josef und Maria Moosbrugger beginnt.
Sie führen ein sehr einfaches Leben: Die schöne Maria, (Tag)-Traum aller Männer im Dorf, deren Zudringlichkeiten, ob scheinbar zufällig oder offen gewalttätig, sie des Dorf- und Familienheils wegen über sich ergehen lässt, und der unzugängliche Josef. Die Rede ist von einer leidenschaftlichen Ehe, guten Gesprächen, Zärtlichkeit, gar Liebe. Es ist ein verschlafenes Landleben, ein Eins sein mit Natur und deren Getier, das in der Erzählung auch immer wieder Erwähnung findet.
Mitten in diese ärmliche Idylle platzt der Krieg und später – Josef wurde bereits eingezogen und Maria ist mit den Kindern allein auf dem Hof – Georg. Der Fremde aus Hannover, der merkwürdig redet und lange und laut lacht, lässt Maria verliebt und schwanger zurück. Letzteres kann jedoch nur vermutet werden, die Zeugin des amourösen Zusammentreffens verrät dieses Geheimnis erst, als sie es beinahe schon ins Grab mitgenommen hätte.
Sicher ist, das Kind - Monika Helfers Mutter Grete - steht unter dem Verdacht ein „Kuckuckskind“ zu sein und wird deshalb von Josef Zeit seines Lebens ignoriert. Auf Mutter und Kind warten Schmach, Schuld und Scham ob der Schwangerschaft, an der Marias Ehemann laut den Berechnungen der Dorfbewohner nur unwahrscheinlich beteiligt gewesen sein dürfte. Die Erfüllung des Schicksals, auf welches schon ihre biblischen Namen hindeuten, bleibt nicht die einzige Hürde, die Maria und Josef zu überwinden haben. Es findet sich so einiges an emotionalem Gepäck in dieser Familiengeschichte.
Mit viel Zuneigung, Humor und einer Portion Abgebrühtheit erzählt Helfer in der für sie typischen, schnörkellosen Sprache von den einzelnen Figuren ihrer Familie, die von den anderen im Dorf nur „die Bagage“ genannt wird. Da ist beispielsweise Kathe, die strenge Tante, bei der die Autorin nach dem frühen Tod ihrer Mutter aufwuchs und die ihre Nichte nicht nur zum Äpfelklau in Nachbars Garten anstiftet, sondern sie auch die Gefährdungen allzu schöner Frauen nicht vergessen lässt. Da sind etwa Lorenz, der eigenartige Onkel, der seinem Vater so ähnlich ist, oder die Onkel Heinrich und Walter. Letzterer ein lustiger Lebemann, der im Bodensee ertrinkt.
So unterschiedlich wie die Mitglieder der Familie sind auch deren Lebenswege. Eins haben sie jedeoch gemeinsam: Sie starben – bis auf wenige Ausnahmen – jung. Von den Frauenfiguren sind die Großmutter Maria, die Mutter Grete, und schließlich auch Monika Helfers Tochter Paula, alle früh verstorben. Ihnen setzt die Autorin mit diesem Buch ein Denkmal.
Das Eintauchen in die Welt zu Marias Zeit - die nicht nur Helfer so vorkommt, als wären schon die Kinder wie kleine Erwachsene - gelingt mühelos. Dabei wirft Monika Helfer aber auch immer wieder Anker ins Jetzt. Sie zieht Parallelen zum eigenen Leben, zu Eigenschaften, die sie selbst mit den (groß)-mütterlichen Vorfahrinnen verbinden und erinnert daran, dass es auch ihre eigene Geschichte ist, die sie sich mit der Annäherung an die schöne Großmutter erobert.
„Meine schöne Großmutter war Vorbild und Vorwurf. Alles Gute hing an ihr, aber wenn meiner Mutter etwas an mir nicht passte, sagte sie, ich solle aufpassen, dass ich nicht werde wie sie.“ Die Autorin bringt sich in ihrem Geflecht aus eigenen Erinnerungen an die Familienmitglieder und Fiktion als Erzählerin aktiv ein, greift vor und teilt diese Abänderung der Chronologie nicht nur mit, sondern begründet sie auch durch ihre eigene, neugierige Ungeduld, als wisse sie selbst nicht, was als Nächstes passiert. Monika Helfer nimmt die Leserschaft mit auf den Versuch einer Familienaufstellung, die in ihren sprachlichen Bildern an ein Gemälde Pieter Bruegels erinnert: Es entsteht ein „Familienporträt“ im wahrsten Sinn des Wortes.
Seit ihrem literarischen Debüt im Jahr 1977 hat Monika Helfer gefeierte Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Kinderbücher veröffentlicht. Die Bagage stand auf der Shortlist zum Österreichischen Buchpreises und ist inzwischen ein Bestseller im deutschsprachigen Raum. Verständlich, gelingt es der Vorarlbergerin doch, ein Gefühl für diese sehr österreichischen und sehr individuellen Charaktere zu vermitteln. „Gefühle verduften, nur in Romanen halten sie angeblich länger, in manchen angeblich ein ganzes Leben.“ Verständlich auch, dass die Autorin einen Großteil ihres eigenen Lebens lang gebraucht hat, sich dieser „Bagage“ zu nähern.
Monika Helfer: Die Bagage. Roman. Hanser Hanser Verlag, 2020. 158 Seiten. 19.60 Euro - auch als Hörbuch und e-Book erhältlich - www.hanser-literaturverlage.de
Bild: Hanser Verlag / Salvatore Vinci