Das Leben ist kein Arztroman
BUCHBESPRECHUNG / WONNEBERGER / SPRICH ODER STIRB
15/02/18 Jens Wonneberger porträtiert in seinem neuen Roman einen Mann, der während einer Kopfoperation aufgeweckt wird und nun – im wahrsten Sinn des Wortes – um sein Leben reden muss. Was zunächst lebensnotwendig ist, wird zur Reflexion über ein gesamtes Leben.
VON VERENA RESCH
Nein, „Sprich oder stirb“ ist kein Krimi, auch wenn der Titel vielleicht danach klingen mag. Für den Protagonisten, einen Schriftsteller in der Krise, ist dieser Satz allerdings bitterer Ernst. In der medizinischen Fachsprache wird dieses Phänomen Wachkraniatomie genannt, was bedeutet, dass der Patient während einer Schädeloperation aus der Narkose aufgeweckt wird und reden muss.
„Sie müssen jetzt reden, erzählen sie etwas, ganz gleich was, aber reden Sie. Erzählen Sie meinetwegen von Ihrer Urgroßmutter, aber reden Sie“, beschwört ihn der Anästhesist. Und tatsächlich beginnt der Dichter, von ihr, Martha hieß sie, zu erzählen. Immerhin ist sie der Grund dafür, dass er Schriftsteller geworden ist. Am Abend, nach getaner Arbeit, schrieb die alte Frau in ihrer Kammer – heimlich von Enkelsohn beobachtet, dessen Liebe zur Urgroßmutter in diesen Momenten am größten ist. Vom Inhalt der vollgeschriebenen Hefte erfährt er jedoch nie, sind sie doch nach Marthas Tod spurlos verschwunden. „Vielleicht war es weniger Martha selbst als dieser Verlust, der mich zum Schreiben brachte.“
Nun steckt er jedoch in einer Krise, das Schreiben ist eine brotlose Kunst geworden und der Dichter ist finanziell von seiner Frau Sabine abhängig. Die wiederum versteht seine Schwierigkeiten nicht und meint: „Die Geschichten liegen auf der Straße, du brauchst sie doch nur aufzuschreiben!“ Dabei kommt es doch nicht nur auf die Geschichten selbst an, sondern „entscheidend ist, wie sie erzählt werden“. Wonneberger tut dies in einem knappen und präzisen Stil, der sehr einfach zu lesen – gepaart mit einer Handlung, die kaum als actionreich bezeichnet werden kann – kein risikoarmes Unterfangen, das hier aber gut gelingt.
„Mutprobe oder Suche vielleicht, doch nach was suchte ich eigentlich? Ausflug wäre auch ein schönes Wort, aber es war wohl eher eine Flucht.“ – Eine Flucht vor Sabine, vor der Reisegruppe, die auf Goethes Spuren nach Italien unterwegs ist, eine Flucht vor dem eigenen Leben. Wer „Goetheallee“ gelesen hat, kennt die Vorgeschichte zu dem Moment, als der Dichter seine Frau an einer Raststation stehen lässt und in die Berge aufbricht. Hundert Tage will er eigentlich unterwegs sein, doch er „kommt vom Fuß“. Dieser Sturz macht ihm einen Strich durch die Rechnung, mit viel Glück wird er rechtzeitig in die Klinik gebracht und landet schließlich auf dem OP-Tisch, wo es dann heißt „Sprich oder stirb!“
Doch auch nach der Operation kann er, der eigentlich als maulfaul gilt, das Reden – und vor allem das Beobachten – nicht lassen. So dauert es nicht lange, bis er herausfindet, dass Schwester Krystyna vom verheirateten Dokter Ostermann geschwängert wurde. Während der langen Zeit im Krankenhaus nähert der Dichter sich ihr an und philosophiert mit ihr über das Wesen von Beziehungen, ehe sie plötzlich verschwindet. Die Erkenntnis? Das Leben ist kein Arztroman!
Auch ein kitschiges Happy end à la Arztroman ist nicht Wonnebergers Fall und so verwundert es kaum, dass viele Fragen nicht geklärt werden. Aber immerhin freut sich der Schriftsteller, als Sabine kommt, um ihn aus dem Krankenhaus abzuholen und auch ein paar Seiten im neuen Notizbuch sind inzwischen gefüllt, auch wenn er findet, es sei „noch zu früh, um schon von einem Neustart zu sprechen“.