Vor dem Klaren die Aufklärung
BUCHBESPRECHUNG / JOACHIM REIBER / GOTTFRIED VON EINEM
23/01/18 „Wie anfangen? Und wo? Im Salzburger Bahnhof drängten sich Heimatlose, Vertriebene, Flüchtlinge. Mehr als 66.000 waren im Mai 1945 in die 85.000 Einwohner zählende Stadt gekommen … Die Festung stand noch, es gab – schon seit 1945 – wieder die Festspiele…“ Schon 1947 landeten diese Festspiele in der „Moderne“ – mit der ersten Oper eines unbekannten jungen Komponisten.
Von Heidemarie Klabacher
„Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null“ also. Joachim Reiber, wiewohl in Stuttgart geboren, seit 1993 Chefredakteur des international vielfach auszeichneten Magazins „Musikfreunde“ der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, lässt über seiner akribisch recherchierten, mit präzisen Daten und Fakten gespickten Biographie quasi permanent einen hauchdünnen Schleier wehen, changierend zwischen Mysterium und Faszinosum. Sobald man sich in hohen Ton ein wenig eingehört hat, ist diese Biografie tatsächlich faszinierend - keineswegs verschleiernd, sondern erhellend.
Joachim Reiber erzählt, gattungsgemäß, die Lebensgeschichte des Komponisten Gottfried von Einem 1918 bis 1996. Zugleich legt der Autor mit der Biographie des Individuums eine Analyse der Zeit vor. Das singuläre Leben wird aufgerollt vor der Folie einer Zeit, in der ein Adolf Hitler als „Mann, der von unten und außen kam“ alte Autoritäten stürzen konnte. „Sie folgten dem neuen Vater ins Verderben, getreu bis zum bitteren Ende.“ Freilich war dann am bitteren Ende dieser ‚Vater-Führer‘ auch allein an allem schuld: „Man selbst trug keine Verantwortung … So zeigt sich im Blick auf die Psychohistorie Deutschlands und Österreichs, wie die unselige Allianz von Führer und Verführten am Vater-Thema ansetzt.“
Das ist vom Thema des Buches – Gottfried von Einem – nur einen Absatz weit entfernt: „In Einems persönlicher Lebensgeschichte war der fehlende, ferne und falsche Vater ein dominantes Thema“, schreibt Joachim Reiber im nächsten Satz. „Der, von dem Einem glaubte, dass er sein Vater sei, war kaum präsent.“ Und wen hat der erwachsene Gottfried von Einem dann nicht alles „Vater“ genannt, Dichter, Lehrer oder auch Generalintendanten, wie etwa Heinz Tietjen, den künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele neben Winifred Wagner.
Seinen wahren "Vater" fand Gottfried von Einem dann in Boris Blacher. Und der sah sich mit einem 23-Jährigen konfrontiert, der als Kind Beethovens „Neunte“ im Radio gehört, sich die Partitur gewünscht und festgestellt hatte: „Das kannst du auch.“ „Der Zug ins Große ist das, was Psychologen ‚Grandiosität‘ nennen – und die Schattenseite zeigt sich auf ebenso typische Weise: Als Depression, Minderwertigkeitsgefühl, Selbstverdammung“, schreibt Joachim Reiber. Boris Blacher hatte es mit diesem Schüler nicht leicht: „Es galt einen, der schon viel Himmelsstürmendes versucht hatte, vom Kopf auf die Füße zu stellen und ihn dabei das wundersam Eigene zu lassen, die persönliche Sprache.“
„Die Klärung begann mit einem Klaren.“ So leitet der Autor eine Anekdote ein, der wiederum gar nichts heiter-anekdotisches eignet: Vor jeder Kompositionsstunde mit Blacher wurde ein Schnaps gekippt: verdünnter reiner Alkohol, mit dem an der Berliner Charité die Leichen konserviert wurden. Und vor diesem „Klaren“ gab es mittels „Feinsender“ weitere Aufklärung: Man schreibt 1942. „Dank Blacher sah er auch politisch klarer…“ In diesem Kapitel ist die Textur aus Lebens- und Zeitgeschichte durch den Autor besonders fein gewoben: In die Versuche Einems, Blacher gegen die Nachstellungen der Nazis beizustehen, wurde auch Einems Mutter eingespannt, die mit einschlägigen NS-Größen gesellschaftlich verkehrte. Der frühe Welterfolg „Dantons Tod“ samt Sprung nach Salzburg war da übrigens schon im Keimen begriffen.
Sechs der neun Kapitel tragen denn auch die Titel der Opern Gottfried von Einems, interpunktiert von zwei „Zwischenakten“ und beschlossen von einem Epilog. Ausgehend von kurzen Passagen über Entstehung, Aufführung, Erfolg- oder Misserfolgsgeschichte der jeweiligen Opern, blickt der Autor der Biographie - immer wieder in Rückblenden kreisend - zurück auf das Leben des Komponisten und, untrennbar verbunden, auf die jeweilige Zeitgeschichte.
„Wie spielen die Zeiten ineinander? Wieviel Vergangenheit verträgt die Zukunft? Wie ist Zukunft möglich – angesichts dieser Vergangenheit.“ Diese Fragen gelten 1971 nicht mehr der NS-Zeit, sondern der Thematik einer weiteren Einem-Oper, „Der Besuch der alten Dame“. Doch auch in diesem Kapitel folgt alsbald ein spannender historischer Rückblick, und zwar auf eine konkrete „alte Dame“: Gottfried von Einems Mutter – „Baronin von Einem, die Mata Hari des Dritten Reiches – steht 1948 vor einem Militärgericht in Paris…“
Ein wenig verstiegen und immer wieder spannend wie ein Krimi: „Gottfried von Einem. Komponist der Stunde null“ ist Lektüre vom Erhellendsten und Feinsten.