Vor dem Holocaust bewahrt
REPORTAGE / GROSSARL / ANGELICA BÄUMER
23/05/11 „Wie gehen wir mit unseren Mitmenschen um, zum Beispiel mit Migranten?“, fragt Angelica Bäumer, wenn sie ihre Lebensgeschichte erzählt. Die jetzt 79Jährige und ihre Familie sind im Großarl vom dortigen Pfarrer geschützt worden.
Von Andrea Huttegger
Im Zweiten Weltkrieg musste ihre jüdische Familie aus Frankfurt vor den Nazis fliehen. Im Pongauer Bergdorf Großarl fanden das Ehepaar Bäumer und die drei Kinder Asyl bei Pfarrer Balthasar Linsinger, die Flüchtlinge wurden so vor dem Holocaust bewahrt. Für diese couragierte Tat erhielt der Pfarrer posthum den Titel „Gerechter unter den Völkern“. Diese Ehrung wird nichtjüdischen Personen zuteil, die während des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg ihr Leben dafür einsetzten, Juden vor der Ermordung zu retten. Die „Gerechten“ bekommen in Yad Vashem in Jerusalem eine Gedenktafel. Balthasar Linsinger wird dieser Tage auch in Großarl gefeiert. Vor der Kirche wurde vor kurzem ein Lindenbaum für den 1986 verstorbenen Pfarrer gepflanzt.
Im Sommer 1942 kam Balthasar Linsinger aus Weißbach bei Lofer nach Salzburg ins Salkzburger Künstlerhaus. Der Pfarrer suchte jemanden, der in der Wallfahrtskirche ein Deckenfresko gestalten könnte. Der Maler Eduard Bäumer übernahm diese Aufgabe. „Mit der Zeit hat Linsinger die Sorgen meines Vaters mitbekommen“, erinnert sich die Tochter. Im Jahr 1943 war es soweit, dass die Bäumers auf der Deportationsliste standen. Pfarrer Linsinger hat die Familie nach Großarl geholt.
Dort, erinnert sich Angelica Bäumer, habe niemand gewusst, dass die Familie jüdisch sei. „Wir mussten uns ins Dorfleben integrieren. Die Leute haben Pfarrer Linsinger einfach vertraut.“ Die Angst, dass ihr Geheimnis ans Tageslicht kommen könnte, sei bei Angelica Bäumer nicht groß gewesen. Alle hätten gewusst, dass Linsinger mit der Einstellung der Nazis nicht einverstanden war. Der Pfarrer habe durch seine Worte und Taten sein Leben riskiert. „Er predigte über den Teufel in Menschengestalt und jedem war klar, wen er meinte.“
Zivilcourage sei ihr ein großes Anliegen, sagt die bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungskuratorin. „Man soll sich trauen, seine Stimme zu erheben und zu handeln, wenn man mitbekommt, dass etwas Ungerechtes geschieht.“ Dieser Gedanke motiviere sie, ihre Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, zum Beispiel in Schulen oder bei Vorträgen. Vor allem in Hinblick auf aktuelle Diskussionen wie die Migrationsdebatte oder das verstärkte Aufkommen von rechtem Gedankengut bei Politikern sowie in der Bevölkerung appelliert sie, „den Menschen zu beurteilen und nicht die Rasse“. In der Öffentlichkeit müsse endlich das Bild vermittelt werden, dass Frauen und Männer mit Migrationshintergrund auch zu uns gehören.
Besonders Kinder von Einwanderern, die in Österreich geboren wurden, würden sich oft schwer tun, ihre Identität zu finden. „Wir müssen unseren Mitmenschen mit Respekt und Offenheit begegnen“, fordert Angelica Bäumer.