Paris macht es vor, eifert der Pinzgau nach?
HINTERGRUND / PINZGAU / KOHR-CAFE
04/08/21 Die Sache mit den kleinen, überschaubaren und deshalb gut funktionierenden Einheiten: Das war eine der Ideen von dem Philosophen Leopold Kohr. Auch heuer fand das vielen Kulturträgern im Pinzgau lieb gewordene Kohr-Café des Vereins Tauriska in der Gruberalm im Stubachtal statt.
Das Anliegen dieses Gesprächforums: Kultur, Natur, Brauchtum und gutes Handwerk mögen keine Gegensätze sein, sondern ineinandergreifen und verbinden. In diesem Sinn gab es viel zu bereden und zu erfahren. So erzählte beispielsweise Vital Ernst (mit Vulgonamen Schönbichl Vit) aus seinem Arbeitsleben als Findling-Steinmaurer. Was der macht? Aus Granit und Gneis stellt der Steinmaurer die Steine (Findlinge) für eine Mauer zusammen. „Ein Steinmaurer muss die Fähigkeiten eines Baumeisters haben und die Geschicklichkeit eines Maurers“, sagt der 1947 geborene Handwerker, der bei der Restaurierung der Burg Kaprun 1982 dieses sein Talent entwickelt hat. Es hat etwas von einem Puzzle und braucht einen geübten Blick fürs Suchen und Setzen der Steine. Bis zu seiner Pensionierung wirkte Vital Ernst (im Bild mit Christian Vötter von Tauriska) bei den unterschiedlichsten Projekten mit, bei Schihütten, Bauern- und Privathäusern oder beim Brückenmauern.
Der Dorferneuerungsgedanke hat dieser nachhaltigen Handwerkskunst wieder einen Wert gegeben. Sogenannte Steinhage werden auch heute noch saniert. Früher wurden die Almen jedes Jahr von Hand „entsteint“, um Weideflächen zu gewinnen. Aus diesen gesammelten Steinen wurden die Hage zur Eingrenzung der Weiden errichtet. „Sie sind eine typische Begrenzungsstruktur auf Almen und gleichzeitig Lebensraum für viele Tiere“, erklärt Vital Ernst.
Ein Gast beim Kohr-Café war Günter Mayrhofer von den Stuhlfeldner Tresterern. Jene Sicht auf diesen Brauch, den Volkskundler heute vertreten, war nicht ganz im Sinne des Eigenbildes der regionalen Brauchträger. So stöberte Günter Mayrhofer jahrelang in Archiven und Bibliotheken, und herausgekommen ist ein wunderschönes Lese- und Bilderbuch über die Pinzgauer Tresterer, das der Verein Tauriska herausgegeben hat. Darin finden sich auch Fotos vom unerwartet verstorbenen Fotografen und Journalisten Walter Schweinöster – auch er wasr einer, dem die regionale Pinzgauer Kulturszene ein Lebensanliegen war.
Aus einem unscheinbaren Einzelstück etwas besonderes Ganzes wie einen Steinhag zu gestalten oder aus einzelnen, oft unwichtig erscheinenden Aufzeichnungen nach Jahren ein Buch vorliegen zu haben, ist Nachhaltigkeit pur.
Was wäre wohl die Botschaft von Leopold Kohr für die heutige moderne Gesellschaft? Er schrieb, dass der eigentliche Fortschritt die Entwicklung hin zu kleinen, überschaubaren Einheiten wäre. Größenwahn, Geschwindigkeitsrausch? Die verghangenen anderthalb Jahre sollten viele eines Besseren belehrt haben. Ein Gedanke aus den Gesprächen beim Kohr-Café: Paris will „die Stadt der kurzen Wege“ werden, Notwendiges im Alltag – Arzt, Schule, Geschäfte – soll im näheren Umkreis innerhalb von fünfzehn Minuten erreichbar sein. Paris macht es vor, eifert der Pinzgau nach? (Tauriska/Renate Ratzenböck; dpk-krie)