Am Ende kam immer ein Spiritual
TODESFALL / JESSYE NORMAN
01/10/19 Ein Erinnerungsstück an sie im Festspielbezirk ist jene marmorne Bank, auf der sitzend sie in einer szenischen Produktion im Großen Festspielhaus Arnold Schönbergs Erwartung interpretierte. – Zum Tod der Sängerin Jessye Norman.
Das war 1995, eine Inszenierung von Robert Wilson. Thomas Vogt schrieb dazu in der Opernwelt: „Wenn Jessye Norman schnellen Schrittes die Bühne betritt, […] dann ist das wohl noch Wilsons Regie, doch deutlich aufgeladen mit hochdramatischer Energie. Hier kommt keine Kunstfigur, sondern eine Sängerin, die fest entschlossen ist, ein Frauenschicksal darzustellen.“
Die Marmorbank, die Teil dieser Interpretation der Erwartung war, hat im Faistauerfoyer einen endgültigen Platz gefunden. Eine Ikone im gedächtnis vieler Musikfreunde: Immer am Ende ihrer Liederabende (nicht nur in Salzburg) gehörte ein Spiritual zum unverzichtbaren Zugaben-Kanon.
„Jessye Norman verstand es über den langen Zeitraum von vierzig Jahren bei jedem ihrer Auftritte ein Ereignis zu schaffen, das weit in den Alltag nachklang“, so Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler in einer Aussendung zum Tod der Künstlerin. „Da handelte es sich nicht um oberflächige Events, sondern da stand in Oper und Konzert eine Künstlerin auf der Bühne, die immer alles gab, um die ganze Kraft der Kunst an ihr Publikum weiterzugeben.“
Ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen gabJessye Norman am 21. August 1977 mit den Wiener Philharmonikern unter James Levine im Großen Festspielhaus. Auf dem Programm standen damals Werke von Mozart und Mahler. 42 Mal war sie bei den Salzburger Festspielen zu Gast, zuletzt im Jahr 2002.
1987 war sie in einem Konzert unter Herbert von Karajan mit Isoldes Liebestod zu hören. „Wenn zuletzt noch Jessye Norman erscheint, um Isoldes Liebestod zu singen, ist des Jubels der Zuhörer kein Ende mehr. Karajan hängt an den Lippen der Sängerin und formt mit sparsamen Bewegungen den herrlichsten Orchesterteppich unter ihren Gesang“, schrieb Wilhelm Sinkovicz 1987 in der Presse. Auch Hans Göbl zeigte sich begeistert und fasste am gleichen Tag im Münchner Merkur zusammen: „Die Stimme schaffte die Bögen bei Karajans langsamen Tempi mühelos, entwickelte eine unerhörte Leuchtkraft, ein Volumen, das nicht Lautstärke, sondern einzig Fülle war.“ Die Künstlerin, die mit ihrer einzigartigen, leuchtenden und wohlig melodiösen Stimme, von Altlage bis lichten Höhen alles zu singen vermochte, versetzte die Kritiker in Begeisterung.
Jessye Normans Repertoire reichte von Schubert, Brahms und Mahler über Berg, Ravel und Tippett. Ihre Opernpartien waren genauso breit gefächert und erstreckten sich von Mozart, Haydn, Purcell und Gluck über Wagner, Verdi und Strauss bis hin zu Schönberg. Bis 1994 war Jessye Norman bei den Salzburger Festspielen fast ausschließlich in Liederabenden und Orchesterkonzerten, unter anderem unter Claudio Abbado oder Riccardo Muti, zu hören.
Von 1997 bis 2000 war sie gemeinsam mit dem Pianisten Mark Markham in sechs Solistenkonzerten zu hören. 1999 trat sie gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Seiji Ozawa bei einem Gedächtniskonzert anlässlich des 10. Todestages von Herbert von Karajan auf.
Jessye Norman galt als eine der weltweit bedeutendsten Opern- und Liedinterpretinnen. Sie wurde am 15. September 1945 in Augusta, USA geboren und absolvierte ein Musikstudium an der Howard-University in Washington. 1968 gewann sie den Internationalen Musikwettbewerb des ARD und debütierte im darauffolgenden Jahr an der Deutschen Oper Berlin in der Rolle der Elisabeth in Wagners Tannhäuser. Ihren internationalen Durchbruch brachten Debüts unter der Leitung von Claudio Abbado in London und Mailand. Jessye Norman wurde fünfmal mit einem Grammy ausgezeichnet.
Die 1945 geborene Sopranistin starb im Alter von 74 Jahren in einem Krankenhaus in New York an den Folgen einer Rückenmarksverletzung, die sie 2015 erlitten hatte. (Festspiele/dpk)