Venedig und die Causa prima
KOMMENTAR
Von Andreas Öttl
06/09/23 Das älteste Filmfestival der Welt und das einzige, dass sich genau genommen gar nicht als Filmfestival sondern als Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica bezeichnet, findet heuer zum 80. Mal in Venedig statt. Eigentlich ein Grund, die Filmkunst der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu feiern.
Und doch gibt es ein Thema, welches in der weltweiten medialen Betrachtung mindestens ebenso stark in den Fokus getreten ist wie die Filme selbst: 'MeToo. Und ein allgegenwärtiges Thema sind auch die fortdauernden Streiks in Hollywood und die daraus resultierende Abwesenheit mancher Stars am Lido.
Festivaldirektor Alberto Barbera hat sich dazu entschlossen, heuer nicht weniger als drei neue Filme von Regisseuren ins Programm aufzunehmen, gegen die es (zumindest) Vorwürfe wegen sexuellem Missbrauch gibt: Roman Polanski, Woody Allen und Luc Besson (letzterer nimmt mit seinem Film DogMan sogar am offiziellen Wettbewerb teil). Barbera argumentiert dies damit, dass er Filmkritiker sei und kein Richter,und man die Werke getrennt von den Personen sehen solle. In der gesamten Kunstgeschichte gebe es sehr viele Werke von problematischen oder gar kriminellen Künstlern und auch in der Geschichte des Filmfestivals habe es immer wieder Kontroversen gegeben.
Dennoch stellt sich die Frage, ob es in Zeiten von Umbrüchen in einer jahrzehntelang männlich dominierten Branche und immer neuen Berichten von missbräuchlichem Verhalten in der Filmindustrie das richtige Signal des traditionsreichsten Filmfestivals der Welt ist, diesen drei Regisseuren (so unterschiedlich ihre Fälle und tatsächlichen Verfehlungen auch sein mögen) die größtmögliche Bühne der Filmwelt zu bieten und sie als unantastbare Regie-Götter zu zelebrieren. Genauso wie eine Kamerafahrt ein unmoralischer Akt sein kann (wie es einst Filmkritiker und Regisseur Jacques Rivette über eine Szene des NS-Dramas Kapò sinngemäß formuliert hat) kann auch eine Festivalauswahl nie völlig losgelöst von Moral und Politik getroffen werden. Und sehr wohl hätte es auch ein Zeichen sein können, die Vorführung dieser Filme zumindest nicht am Red Carpet stattfinden zu lassen, sondern nur in einer Vorführung für die Presse bzw. das Fachpublikum. Geschweige denn, dass es viele andere (jüngere und künstlerisch vielleicht sogar spannendere) Regisseure und Regisseurinnen gäbe, denen man stattdessen eine prestigeträchtige Premiere vor Weltpublikum hätte bieten können.
Um das Festivalgelände am Lido und auch im Zentrum Venedigs selbst ist jedenfalls eine starke Gegenbewegung zu spüren. Aktivistinnen und Sktivisten bekleben die Stadt mit provokanten Slogans und selbst ein Drink mit Meerblick bei Sonnenuntergang an der Bar des Festival-Sponsors kann nicht komplett davon ablenken, dass das an sich wunderbare Filmfest am Lido heuer einen bitteren Beigeschmack hinterlässt.