Seien wir bildungsverliebt!
GASTKOMMENTAR
Von Norbert Brandauer
11/11/20 Die Pandemie wirft ein besonders grelles Licht auf ein schon länger wahrzunehmendes Phänomen: Wir – das heißt wir alle als Gesellschaft – nehmen Bildung, vor allem Bildung unserer Jugend nicht wichtig genug. Damit meine ich vor allem Herzensbildung, Charakterbildung, kulturelle, musische und spirituelle Bildung, sprich: Menschenbildung.
Ich darf besonders herzliche, nette und offene junge Menschen begleiten. Täglich „treffe“ ich jetzt meine 15- bis 18-jährigen SchülerInnen per Videoschaltung. Gespenstische Stille der geschlossenen Mikrophone. Die Gesichter wirken jeden Tag etwas bleicher in den Zimmern vor den Bildschirmen. Manche haben wenigstens eine Katze am Schoß, um ein wenig Leben zu spüren. Manche haben das Glück, Geschwister im Haus zu haben.
Wir nennen das „meeting“, „Besprechung“, „live-Unterricht“. Nennen wir es doch – bei aller Faszination für das technisch Mögliche – beim Namen: Das, was Schule zu einem Ort wirklicher, echter, lebendiger Bildung macht, findet für unsere Jugendlichen nicht statt. Schule findet im Wesentlichen und von ihrer Grundidee her momentan nicht statt, wir werden zu Bildungsdieben unserer Jugend.
Was sagt uns moderne Gehirnforschung? Erst wenn uns etwas berührt, begeistert, wenn etwas „unter die Haut geht“, wird es unser Leben bestimmen. Nur dann wird es uns bilden. Schon unter „normalen“ Umständen ist zu befürchten, dass diese grundlegende Erkenntnis selten eine praktische Umsetzung erfährt, um wie viel weniger jetzt?
Mein Aufschrei ist nicht gegen jemand gerichtet, sondern für das Säen wertvollen Samens: Ich kann Ihnen nicht ersparen, es dramatisch zu sagen: Wenn wir jetzt unsere Jugend vergessen und sie noch dazu mit zweidimensionalen Pseudo-Begegnungen, zeitraubenden Arbeitsaufträgen oder Beschäftigungstherapien abspeisen, säen wir den Samen, der uns anvertraute Menschen schlimmstenfalls zu gewaltbereiten Attentätern werden lässt. Auch das Herz des in Wien zum Mörder gewordenen Burschen war einmal offen und empfänglich für eine Bildung zur Menschenwürde. Wenn wir keine überzeugenden, echten, lebensgeeichten Angebote für unsere Kinder und Jugendlichen bieten, werden sie sich woanders hin orientieren. Das kann gut gehen, kann aber auch in Richtungen gehen, die uns alle verwunden, wie wir gerade schmerzlich erfahren müssen.
Nehmen wir doch alles wichtig und spielen es nicht gegeneinander aus: Wirtschaft, Tourismus etc., vor allem aber das, was uns zu lebendigen, menschenwürdigen, dem Leben und der Liebe dienenden, dem Wahren und Schönen zugewandten Wesen macht.
Bildung ist nicht nur für Kultur- und Bildungsverliebte als Randthema wichtig, Bildung ist Rettung besonders unserer Kinder und Jugendlichen. Bildung ist – gerade jetzt – von dringlichster, lebensdienlicher Bedeutung, für uns alle!
Das Gebot der Stunde also: Schulen jetzt öffnen bzw. offenhalten, die Matura 2021 anpassen. Aber vor allem: Schule neu denken und versuchen umzusetzen. Mögen wir in dieser und durch diese Krise zu einer Form von Besinnung auf einen gemeinsamen, menschenwürdigen Weg finden!