Dr. Hohenadl ist stolz auf Österreich
SATIRE
12/11/24 Dr. Hohenadl lebte nicht in den Tag hinein. Er hätte es sich leisten können. Aber er tat es nicht. Stattdessen machte er sich unentwegt Sorgen und fragte sich, ob er etwas falsch machte. Eine der Sorgen galt der Gesundheit, speziell der Ernährung. Er las alle einschlägigen Ratschläge, und wenn sie ihm sinnvoll erschienen, befolgte er sie.
Von Werner Thuswaldner
So etwa leuchtete es ihm ein, dass sich das lebenswichtige Vitamin D nur in Verbindung mit Sonnenlicht bilden konnte. Die Sonne brauchte genügend Angriffsfläche auf nackte Haut. Also krempelte Dr. Hohenadl auch in der kalten Jahreszeit jeweils für kurze Zeit die Ärmel hoch, um seine Arme dem Licht auszusetzen. Mit Ausdauer hielt er, wo es ging, sein Gesicht in die Sonne. Das sah er nicht als Übertreibung oder Schrulligkeit an. Von Übertreibung hätte man reden können, wäre er im Winter für zwei, drei Monate nach Südafrika geflogen.
Dr. Hohenadl war nicht oberflächlich. Daher machte er sich auch Sorgen, ob er als soziales Wesen richtig lebte. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, machte er sich Gedanken um Wien, um Österreich. Aber niemand hätte ihn deshalb rückwärtsgewandtes nationalstaatliches Denken vorwerfen können. Dr. Hohenadl wusste genau, in welcher Welt er existierte. In einer Welt nämlich – so wurde es oft von Politikern betont –, in der er nur als Europäer überleben konnte. Das sagte er sich immer wieder vor und schaute immer wieder im Atlas nach, um auf diese Weise europäisches Denken einzuüben.
Aber ein Gefühl für Europa konnte er nur bekommen, wenn zuvor seine innige Beziehung zu Österreich intakt war. Österreich, das wusste er genau, lebte vom guten Ruf, den es sich in der Vergangenheit erworben hatte. Darum war Dr. Hohenadl stolz auf Österreich. Nicht nur wegen der majestätischen Bergwelt, den Seen, den grünen Matten und der guten Luft. Stolz war er auf die Künstler und Forscher, auf die Architekten und Ingenieure, auf die Dichter und Komponisten. Nach wie vor gaben bedeutende Einrichtungen aus der glorreichen Vergangenheit Grund, um stolz zu sein: das Nationaltheater, die Staatsoper, das Kunsthistorische Museum, die Hofreitschule, die Philharmoniker, ebenso wie die Sängerknaben.
Wer aber sagte, dass dies immer so bleiben würde? Sollte nicht jeder seinen Beitrag leisten? Und auf ewig von der Substanz zu zehren, das ging schon gar nicht an. Daher bemühte sich Dr. Hohenadl, von Zeit zu Zeit, die ruhmreiche Vergangenheit und ihr Erbe auszublenden und nur auf die Gegenwart zu achten, um in ihr nach Gründen zu suchen, weshalb er auf Österreich hätte stolz sein können. Und er fand sie. Die Landschaft zählte er gar nicht, denn die war ja schon früher da gewesen. Aber noch immer gab es Architekten, die sich etwas trauten und von sich reden machten. Vom Gebiet des Sports gar nicht zu reden. Fast durchwegs sorgten die Ergebnisse dafür, den Stolz auf Österreich zu nähren. Schriftsteller gab es, die zwar im Ausland, wenn sie berühmt genug waren, für Deutsche gehalten wurden, dem Land aber dennoch viel Ehre einbrachten. Sogar eine nach wie vor lebende Nobelpreisträgerin konnte man vorweisen. Übrigens: Auf die Politik und ihre Exponenten stolz zu sein, verlangte niemand.
Dr. Hohenadl schätzte die Tradition, wollte darin aber nicht wie manche steckenbleiben. Wien galt als Musikstadt, mit der Klassik als Schwerpunkt. Was steuerte die Gegenwart bei? Die Bemühungen, populäre Musicals nachzuspielen, waren unverkennbar. Gerne wäre die Stadt zu einem in allen europäischen Ländern anerkannten Treffpunkt für die besten Schlagersänger geworden. Dadurch bestand die Chance, den Namen Wiens mit Hilfe von spektakulären Fernsehübertragungen in der ganzen Welt bekanntzumachen.
Dr. Hohenadl sah diese Bestrebungen mit Sympathie, weil damit Vorsorge für die Schaffung von Gründen zu erwarten war, weshalb man auch künftig auf Wien und Österreich stolz sein könnte. Zu einer Vernachlässigung der Traditionseinrichtungen sollte es allerdings nicht kommen. Das Alte dürfe nicht gegen das Neue ausgespielt werden. So Dr. Hohenadls Meinung. In diesem Punkt glaubte er, Sorge haben zu müssen. Das Nationaltheater war in eine veritable Krise geraten. Zur Rettung hatte er sich viele Gedanken gemacht und konstruktive Vorschläge ausgearbeitet. Ein anderes Mittel, sich einzubringen, waren für ihn Leserbriefe und die Beteiligung an Radiosendungen, indem er dort anrief.
Mitten hinein in seine sorgenvollen Überlegungen bekam er ein Mail von seinem älteren Bruder. Der kündigte ihm an, er werde ihm eine Opernkarte überlassen. Wegen eines Vortrags, den er Mailand halten müsse, sei er am Tag der Aufführung nicht in Wien. Es wäre schade, die Karte verfallen zu lassen.
Das war typisch für seinen älteren Bruder. Der wollte auf seine Bedeutung hinweisen. Vortrag in Mailand. Worüber wohl? Womöglich auf Italienisch. Außerdem stellte er sich als jemand dar, der in die Oper ging. Ein Kulturmensch. Ein wenig fühlte sich Dr. Hohenadl mit dem Angebot der Opernkarte ertappt. Was konnte denn der Einzelne tun, um die alten ehrwürdigen Institutionen am Leben zu erhalten? Anteil nehmen, natürlich: Hingehen!
Wohl sah die Opernkarte nach einem großzügigen Geschenk aus, aber Dr. Hohenadl wusste genau, dass sich sein Bruder eine Gegenleistung erwartete. Dennoch bedankte er sich, weil er der Konvention entsprechen wollte. Sie kam per Post und auf dem Kuvert stand: „Porto beim Empfänger einheben!“ Auch das war typisch für seinen älteren Bruder.
Der machte vor, wie den alten, ehrwürdigen Institutionen am besten geholfen werden konnte. Indem er sich zum Mitwirkenden in der Kulturszene machte. Und die traditionsreichen Einrichtungen machten es einem ja einfach. Obwohl… In einem Zeitungsartikel hatte es geheißen: Auf jeden Sitz des Nationaltheaters lägen Abend für Abend hundertfünfzig Euro. In der Staatsoper seien es sogar zweihundert Euro auf jedem Sitz. Das klang so, als wollte man mit diesem Geld die Menschen zum Besuch des Nationaltheaters oder der Oper anlocken. Aber Dr. Hohenadl hatte es überprüft. Das Geld lag mitnichten auf den Sitzen. Auch nicht darunter. Es lag wieder einmal ein Fall journalistischer Metaphorik vor. Was mitgeteilt werden wollte war: Oper und Theater wurden mit Steuergeld subventioniert.
Als Dr. Hohenadl das letzte Mal in der Oper gewesen war, vor längerer Zeit, hatte man „Rigoletto“ aufgeführt. Schon damals war es ihm vorgekommen, als steckte das Haus in einer Krise. Das war kein normales Opernerlebnis. Ein normaler Opernverlauf schien dem Publikum nicht mehr zu genügen. Die Direktion glaubte, Effekte ganz besonderer Art einbauen zu müssen, um das Interesse der Zuschauer wach zu halten. Nach dem zweiten Akt kam der Direktor auf die Bühne und erklärte, der Sänger der Titelrolle habe seine Stimme verloren. Ein Einspringer werde den Abend zu Ende bringen. Der Sänger der Titelrolle blieb auch im Schlussakt auf der Bühne, aber er agierte nur noch. Die Stimme kam von dem Einspringer, der aus den Kulissen heraus sang. Zusätzlich zur dramatischen Handlung erhöhte sich die Spannung dadurch erheblich.
Was hatte sich denn sein älterer Bruder ausgesucht? Aha, „Der Rosenkavalier“ sollte es sein, das alte Österreich in eingedickter Form. Experimente liebte er nicht. Das war nicht die Oper, die Dr. Hohenadl unbedingt sehen wollte. Er las, dass die Inszenierung schon 271 Mal aufgeführt worden war. Wie haltbar musste die Ausstattung sein! Die meisten Sänger der Premiere waren längst tot. Aber es war bestimmt niemals die kleinste Lücke entstanden. Weil natürlich eine junge Garde bereitstand, die in die alten Kostüme hineinwuchs. Mit dieser Aufeinanderfolge der Generationen verlieh die Direktion der Staatsoper dem Thema des Werks, dem Vergehen der Zeit und dem unmerklichen Altern, zusätzlich sinnfälligen Ausdruck. Der Regisseur lebte noch.
Für viele Wiener, die sich Opernfreunde nannten, war es ein Sport, die Neubesetzungen streng zu taxieren. Zu ihnen zählte sich Dr. Hohenadl nicht. Er sah sich frei vom Verdacht, nur hingehen zu wollen, um in der Pause von anderen gesehen zu werden. Stattdessen nahm er sich vor, ganz fest an die Förderung des Hauses zu denken, so viel wie möglich an Applaus beizusteuern und auf die Oper anhaltend stolz zu sein. Hätte er nicht, weil er niemandem etwas beweisen musste, gut auch daheimbleiben können?
Der Tag der Aufführung kam. Schon am frühen Morgen fühlte sich Dr. Hohenadl nicht wohl. Am liebsten wäre er im Bett liegen geblieben. Er hatte aber im Lauf seiner Erziehung gelernt, sich zu disziplinieren und stand auf. Es hielt ihn aber nicht lang auf den Beinen, er musste sich wieder hinlegen. Nach längerem Schlaf wachte er von Sorge benommen auf. Das war jetzt keine vage Sorge wie sonst seine Sorge um Wien, Österreich und vieles mehr, es war die Sorge, ob er sich in der Lage sehen würde, in die Oper zu gehen. Er zwang sich dazu, aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu gehen. Das kostete ihn große Anstrengung. Er fühlte Schweiß auf der Stirn. Die Zeit schritt voran, er wusste, dass er jetzt jemand anrufen musste, um seine Opernkarte anzubieten. Er wollte es ganz fest, aber es gelang ihm nicht. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie Kirill Petrenko den Orchestergraben betrat, und seine geistigen Ohren hörten den aufbrandenden Applaus des Publikums. Sein Blick fiel auf den Sitz Nummer 15 in der siebenten Reihe; er war leer. Dann aber trübten sich seine Sinne wieder ein und als er das nächste Mal zu sich kam, musste in der Oper schon die Pause begonnen haben.
Dr. Hohenadls Schwächephase dauerte zehn Tage. Erst dann fühlte er sich stark genug, seine Lage zu bedenken. „Der Rosenkavalier“ hatte ohne ihn stattgefunden. Das bedauerte er zutiefst. Vom Opernbesuch hatte er sich einen starken Impuls erhofft, seinen Stolz auf die österreichische Kultur aufrechtzuerhalten. Es ärgerte ihn die Vorstellung, jemand von ganz hinten, achtzehnte Reihe Stehparterre, könnte die Chance erkannt haben und nach der Pause auf seinem Platz gesessen sein.
Sollte er alles, wie es gelaufen war, auf sich beruhen lassen? Einen Anlass, sich für sein Fernbleiben zu entschuldigen sah er nicht. Weder gegenüber seinem Bruder, noch gegenüber der Oper.
Die Karte war, wenn er genauer darüber nachdachte, ungenutzt geblieben und nicht entwertet worden. Was folgte daraus? Hieß das nicht, sie besaß ihren Wert noch? Wenn dies der Fall war, hatte er das Recht, den ausgelegten Betrag zurückzubekommen.
Dr. Hohenadl setzte sich hin und schrieb einen Brief an die Direktion der Staatsoper. Doch gebührte das Geld nicht seinem älteren Bruder, der es ausgelegt hatte? Dr. Hohenadl beruhigte sich schnell. Ja, der hatte es ausgelegt, aber dann kam der Schenkungsakt. Damit war das Eigentum an der Karte auf ihn übergegangen.
Die erste Fassung für den Brief fiel kurz und bündig aus. Dr. Hohenadl war damit unzufrieden und setzte, nachdem er sich zur Verbesserung seines Stils eine Stunde von der Lektüre in einer Lyrikanthologie hatte inspirieren lassen, neu an. Nun drückte er seine schon langanhaltende, innige Verbindung mit dem Wiener Kulturleben, insbesondere mit der Staatsoper aus. Ebenso die Bewunderung für das Haus und seine künstlerischen Leistungen, die ihn mit Stolz erfüllten.
Für die Formulierung der Gründe, warum er den „Rosenkavalier“ nicht besuchen konnte, fielen ihm, wie er fand, ein paar sehr poetische Wendungen ein. Auch für die Beteuerung, er werde den ihm zustehenden Betrag für die ungenutzte Karte umgehend wieder dem Wiener Kulturleben zugutekommen lassen, verpackte er in Zeilen, die sich beinahe reimten. Wieder und wieder las er den Brief durch, pusselte da und dort an Wörtern herum, bis er voll und ganz zufrieden war. Der Preis für die Briefmarke ärgerte ihn. Aber den Brief persönlich abgeben, wollte er nicht.
Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten. Als erstes schaute Dr. Hohenadl auf die Unterschrift. Der Name lautete Ing. Herbert Kotzack. Dr. Hohenadl war zutiefst enttäuscht. Er hatte ausdrücklich an den Direktor geschrieben, und jetzt antwortete ihm irgendein Unterläufel, der womöglich nicht einmal zum künstlerischen Personal gehörte.
Was er in Händen hielt, war gar kein richtiger Brief, sondern ein vorgefertigter Text:
„Auszug aus den ALLGEMEINEN GESCHÄFTSBEDINGUNGEN
Rücknahme von bzw. Ersatzleistung für Karten
Eine Rücknahme oder ein Umtausch bezahlter Karten ist nicht möglich. Ein Ersatz für nicht oder (z.B. durch Zuspätkommende) nur teilweise in Anspruch genommene Karten oder für wie auch immer abhanden gekommenen Karten kann nicht geleistet werden.
Wir bitten um Kenntnisnahme.“
Dr. Hohenadl war im ersten Moment empört. Er wollte sofort anrufen. Aber seine Stimmung schlug um und er fühlte sich niedergeschlagen. Hätte man an ihm jetzt eine Messung vornehmen können, wäre sichtbar geworden, wie der Level, der seinen Stolz anzeigte, rapide absank. Und denselben Absturz erlebte auch der Level, der die Sorge um die österreichische Kultur und deren Ruf in der Welt betraf. Stattdessen konzentrierte er sich in der folgenden Zeit auf seine Gesundheit. Hatte er nicht schon mehrmals einen stechenden Schmerz im linken Unterschenkel gespürt? Seine Diagnose, zu der er nach dem Nachlagen in diversen Gesundheitsratgebern und im Internet gekommen war, lautete: Osteomalazie, Knochenerweichung. Und die Ursache? Mangelndes Vitamin D. Rasche Maßnahmen waren erforderlich. Er erkannte schlagartig, wie unbedeutend seine Sorge um die Oper im Vergleich zur Sorge um seine Gesundheit war und fühlte sich sofort um vieles besser.