Gestörte Welt von gestern
WINTERFEST / CIRQUE PARDI!
16/12/24 Da stehen und sitzen sie, ein Standbild wie aus einem Kostüm-Museum. Die Damen tragen Kleider, wie sie Bürgerinnen in den 1950er und 1960er Jahren gut zu Gesicht standen. Passt dazu das Guckkasten-Interieur dahinter, ein recht armseliges, enges Wohnzimmer? – Der Cirque Pardi! aus Frankreich zu Gast beim Winterfest.
Von Reinhard Kriechbaum
Ein bisserl aus der Mode gekommen, aus der Zeit gefallen gar? Oder doch mittendrin in unserer Zeit, aber in dieser nicht angekommen, weil nicht auf die Butterbrotseite gefallen und deshalb aus der Norm-Gesellschaft gekippt? Vielleicht haben sich diese auf den ersten Blick Glücklosen eben deshalb im Secondhand-Shop eingekleidet? Low Cost Paradise heißt die Produktion des französischen Cirque Pardi! – und der Titel scheint in diese Richtung zu weisen. Ohne viel Geld geht’s vermutlich auch, solange man sich sein kleines Paradies einigermaßen zusammenzimmern, es sich in ihm wenigstens notdürftig einrichten kann.
Freilich: Paradise in Leuchtschrift steht droben bei der Zirkuskapelle, wogegen über dem Guckkasten das Wort lost leuchtet. Das stimmt misstrauisch. Allen Widrigkeiten zum Trotz: All diese Leutlein, von einem maßlos überforderten Desprate housewive bis zum außer Dienst gestellten Weißclown, werden sich in den kommenden neunzig Minuten quasi am eigenen Schopf aus der Misere ziehen.
Damit liefert Low Cost Paradise ein schönes Parallelprogramm im Winterfest. Denn gegenüber, im etwas größeren Zelt, haben ja bis zum Wochenende Kolleginnen und Kollegen vom NoFit State Circus aus Wales Sabotage geübt. Da ging’s, salopp gesagt, ums absichtsvolle oder zufällige Vereiteln. Immer mit positivem Ausgang. Auch die buntscheckige Gruppe aus Frankreich schlägt allfälligen Widrigkeiten ein Schnippchen. Sie müssen mit einer gestörten Welt von gestern im Heute fertig werden und schaffen das mit Bravour. Mag da auch einer aus dem Publikum – natürlich gehört er zur Truppe – wortreich und aggressiv eine Störaktion versuchen. Und mögen auch zwei schrille alte Damen herumnörgeln. Die beiden wirken wie das weibliche Pop-Pendant zu den legendären Logen-Nörglern aus der Muppet Show.
Es wäre kein Nouveau Cirque, setzte sich nicht eine rundum positive, freudvolle Sicht auf die Welt durch. Cirque Pardi! illustriert das mit einer ziemlich gleichgewichtigen Mischung aus Theater, Artistik und Musik. Im Fahrrad-Künstler kann man einen Prototypen dafür sehen: Er macht allerlei Spompanadeln auf seinem Gerät, jongliert radfahrend drei Bälle, erlegt vom Sattel aus eine Kollegin mit Pfeil und Bogen, nimmt den Weißclown ein Stück des Weges mit sich und beendet diese Tour de Force zuletzt gar Trompete spielend.
Überhaupt: In dieser Compagnie können viele vieles. Dass zwei Damen trotz für Artistik denkbar ungeeigneter Kostümierung eine tolle Boden-Nummer hinlegen und die eine in den unmöglichsten Positionen auch noch ein Chanson singen kann – das verblüfft schon. Fast hat man Mitleid mit dem Seiltänzer, der sich auf dem steil schräg gespanntem Seil wie Sisyphos abmüht. Zwei große Auftritte hat die Dame am Trapez. Einmal bringt sie es so kraftvoll in Bewegung, dass sie sogar die Zirkuskuppel berührt. Das zweite Mal – das ist viel imponierender – geht es um Kraft und Gleichgewicht, allein am Nacken und dann an den Fersen hängend.
Das Burleske kommt nicht zu kurz. Einer sorgt mit dem Schleuderbrett dafür, dass die Gitarre in seine Hände wandert, und er wird dann mit drei Gitarren jonglieren. Eine Dame wird auf Rollschuhen antanzen und wirkt damit so old-fashioned wie der Clown, der in einem Vorspiel mitten im auf Einlass wartenden Publikum sich genau diesen Vorwurf hat machen lassen müssen: Er passe nicht mehr hierher, heißt es. Platzverweis.
Einem frühen Film von Luis Buñuel scheint das Ehepaar entsprungen, das sich in besagtem Guckkasten das Leben schwer macht. Ihm geht es mit Insektenspray an den Kragen, dafür hantiert er höchst zielgerichtet mit der Pistole. Diese Nummern schenken wenig Zutrauen ins Verheiratet-Sein. All das, die artistischen Nummern ebenso wie die vielen theatralen Szenen, sind mit gediegener Musik unterlegt. Und alles ist gar wundersam poetisch choreographiert. Die Mittel scheinen so einfach. Der old-fashioned Clown bläst in einer Seifenblasen-Welt Trübsal – und hat das Lachen doch nicht verlernt.