Erfolg mit Tschaikowski-Rarität
REST DER WELT / WIEN / DIE ZAUBERIN
19/09/14 Während das Haus am Ring aufgrund des Rücktritts von Franz Welser-Möst mit einer Negativschlagzeile in die neue Saison gestartet ist, ist der Start im Theater an der Wien wieder einmal gelungen. Christof Loy hat die „Die Zauberin“ von Peter I. Tschaikowski für Wien entdeckt.
Von Oliver Schneider
„Eugen Onegin“, „Pique Dame“, vielleicht noch „Jolanthe“ – mehr von den zehn Opern von Peter I. Tschaikowski findet sich, zumindest in den Opernhäusern außerhalb Russlands, selten auf den Spielplänen. Viel zu selten, wenn auch in den letzten Jahren vermehrt, trifft man auch „Die Zauberin“, „Charodeyka“ in Russisch, die achte, 1887 in St. Petersburg uraufgeführte Oper an. „Ich bin überzeugt, dass die ‚Zauberin‘ meine beste Oper ist“, meinte Tschaikowski selbst. Doch prophezeite er auch: „ … und trotzdem wird sie alsbald ins Archiv wandern.“ Damit behielt er Recht. Woran das liegt? Wohl daran, dass Tschaikowski sich hier deutlich weniger an westlichen Vorbildern orientierte, er aber auch nicht konsequent den Weg der Komponisten des „mächtigen Häufleins“ ging. Die vier Akte könnten gut auch separat für sich stehen, sind in sich relativ geschlossen und unterscheiden sich auch in ihrer musikalischen Sprache. Während der erste Akt das nach Freiheit dürstende Volk ins Zentrum rückt und Tschaikowski seiner Musik volksliedhafte Elemente zugrunde legt, geht es in den folgenden drei Akten um die zeitlos wiederkehrenden Themen im menschlichen Zusammenleben: Liebe, Eifersucht, Hass, blinde Wut und Rache. Schroff und leidenschaftlich ist die Musik, in deren Zentrum grosse Duett-Szenen stehen.
Die eigentlich im 15. Jahrhundert im kleinbürgerlich-engen Nischni Nowgorod spielende Handlung, dort wo die Oka in die Wolga fliesst, lässt Regisseur Christof Loy im Heute spielen. Da träumen ganz unterschiedliche, unterdrückte Menschen im Wirtshaus der Zauberin Nastasja von besseren Zeiten. Die Zauberin ist deshalb den Herrschenden ein Dorn im Auge. Doch die selbstbewusste Nastasja, auch Kuma (= kumpelhafte Freundin) genannt, kennt keine Furcht. Auch nicht dem mächtigen Statthalter gegenüber, den sie mit ihren Reizen umgarnt – „Charodeyka“ heisst auch die „Bezaubernde“ – und bei dem sie gleichzeitig ihren ärgsten Feind, seinen bigotten Schreiber Mamyrow, der Lächerlichkeit preisgibt. Hier ist Loy vor allem bei der Führung des Arnold Schoenberg Chors (bestens einstudiert von Erwin Ortner) und der vielen Klein- und Kleinstpartien gefordert, denn jeder einzelne will als Individuum gezeigt sein.
Christian Schmidt hat für die ersten drei Akte des Abends einen in hellem Holz getäfelten Saal mit einem Podest in der Mitte geschaffen. In der Rückwand sieht man durch einen Spalt in den geheimnisvollen Wald. Im zweiten Akt, im Haus des Statthalters, des Fürsten Nikita, öffnet sich die Rückwand und gibt den Blick auf die Türme der Stadt frei. Erst im vierten Akt öffnet sich der Raum, und man findet sich im dunkel-dichten Wald als Ort der Handlung wieder.
Am Rande des ersten Akts setzt das individuelle Drama ein: Der Statthalter, Fürst Nikita, hat sich in Kuma verliebt, die aber wiederum seinen Sohn Juri liebt. Der von Kuma verhöhnte Mamyrow pflanzt der Fürstin den Stachel der Eifersucht ein, die sich der Unterstützung ihres Sohnes zur persönlichen Rache versichert. Drei in ihren Gefühlen verletzte Menschen planen nun das grausame Ende des Abends, still sekundiert von Mamyrows Schwester, der Amme der Fürstin. Hanna Schwarz wertet sie mit ihrer Bühnenpräsenz zu einer zentralen Rolle auf. Auch sonst ist die Besetzung richtig für das Haus ausgewählt (für größere Häuser mögen einzelne Stimmen zu klein sein). Agnes Zwierko bietet körperlich und vokal Totaleinsatz als alternde Fürstin, der alle Mittel recht sind, um sich an der jungen Kuma als vermeintlicher Nebenbuhlerin zu rächen. Höhepunkt des Abends ist das leidenschaftliche Verschwörungsduett zwischen ihr und ihrem Sohn Juri, in dem Maxim Aksenov auch stimmlich mit hoher Expressivität punkten kann. Für den bigotten, machtbesessenen Strippenzieher im Hintergrund, Mamyrow, ist Vladimir Ognovenko mit seinem schwarzen Bass und seiner Bühnenpräsenz eine Idealbesetzung.
Nachdem Kuma dem Fürsten klar gemacht hat, dass sie einen anderen als ihn liebt und Juri sich von ihr hat überzeugen lassen, dass es kein Verhältnis zwischen ihr und seinem Vater gibt, gestehen sich die beiden ihre Liebe und entscheiden sich zur Flucht. Das Ganze geschieht aber erstaunlich rational und kühl, vergleicht man es mit der Szene zwischen Mutter und Sohn im zweiten Akt. Ins Surreale driftet die Geschichte im letzten Akt ab, wenn sich die Liebenden im Wald beim menschenverachtenden Zauberer Kudma (resonanzkräftig Martin Winkler) treffen wollen, um gemeinsam die Flucht anzutreten. Just bei diesem besorgt die Fürstin ein Gift und mischt es der wartenden Kuma ins erfrischende Wasser. Kuma stirbt, als Juri eintrifft, der wiederum von seinem Vater getötet wird. Einem Boris Godunow ähnlich, verfällt der Fürst zum Schluss dem Wahnsinn. Vladislav Sulimsky beeindruckt bis zuletzt mit robustem, satten Bariton in der wichtigsten Partie des Werks, während Asmik Grigorian als Kuma zwar darstellerisch wirkungsstark ist, stimmlich aber an dramatischen Stellen mit Schärfen zu kämpfen hat.
Christof Loy hat der schwierigen Mischung aus Volksdrama, Psychodrama und Märchen keine neue Geschichte aufgepfropft; damit hätte man das Werk wohl auch überladen. Stattdessen lässt er „seine“ Protagonisten schlicht spielen, präzise geführt, ohne dass szenische Leerläufe entstehen. Und gleichzeitig zwingt er den Zuschauer, für sich selbst die Schlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen, ohne dass er ihm mit einer Brücke hilft. Musikalisch legt schließlich der Tschaikowski-erfahrene Mikhail Tatarnikov, Musikdirektor und Chefdirigent des Mikhailovsky Theaters in St. Petersburg, am Pult des soliden ORF Radio-Symphonieorchesters ein Fundament, ohne dass diese Rarität in Wien nicht zum Erfolg geworden wäre.