Marion Biberköpfin
GRAZ / THEATER IM BAHNHOF / GRAZ ALEXANDERPLATZ
20/04/12 Aufwachen nach einer komplett vergessenen Nacht. An „große Hände“ kann Marion sich erinnern und sie testet gleich mal jene der männlichen Ensemblemitglieder aus. Wie sie aussehen. Wie sie sich anfühlen an den erogenen Zonen. Die richtigen Greifer scheinen nicht dabei.
Von Reinhard Kriechbaum
Da findet sich auch ein Kondom, aber „sehr trocken, eher nicht von gestern“. Vielleicht war da eh nichts? Aber wenn doch, mit wem?
Weitertrinken, Alkoholvergiftung riskieren? Der Gerichtsmediziner täte den Geschlechtsverkehr rausfinden, „dann wüsste ich’s“.In „Graz Alexanderplatz“, einer Produktion des Grazer „Theater im Bahnhof“, steht das urbane Leben zur Disposition, oder genauer gesagt: das eigene Leben im bewohnerreichen urbanen Niemandsland. Dort ergeht es Marion nicht besser als dem legendären Franz Biberkopf in Döblins Großstadtroman „Berlin Alexanderplatz“. Es ist immer wer da, wenn auch der oder die Falsche. Man wächst an den Bezugspersonen oder fällt mit ihnen. Das war schon im Roman so. Damals, Ende der 20er Jahre, hätte man die Geschichte von Biberkopf nicht so ohne weiteres in eine andere Stadt übertragen können. Heutzutage ist das anders. Die Welt ist kleiner und das Verhalten uniformer geworden. Ein dem Gedächtnis entfleuchter One-night-Stand; unverbindlicher Sonntagsbrunch mit Freundinnen; als Frau – wiewohl studierte Architektin – ausgenutzt werden in mehreren prekären Arbeitsverhältnissen: An solchen Dingen ändert eine Null an der Einwohnerzahl wenig. Graz kann sehr wohl Berlin sein und umgekehrt, mit oder ohne Alexanderplatz.
Alltagserkundung ist die Spezialität der Leute vom Theater im Bahnhof, drum sind sie Kult in der Grazer Theaterszene. Es sind keine Amateurschauspieler, es sieht nur so aus, weil sie echten Menschen aufs Maul und auf ihr Alltagsverhalten schauen. Teamwork, Feldbeobachtung – es menschelt, und das nicht immer angenehm.
Für seine Produktionen sucht sich das „Theater im Bahnhof“ die je stimmigen Lokalitäten. Diesmal ist die Wahl auf den „Dom im Berg“ gefallen, eine etwas düstere Location tief im Schlossberg, wo man einstige Luftschutzstollen größer gesprengt und zum Veranstaltungsraum gemacht hat. Im betongesicherten Fels teilt sich die Ausweglosigkeit gut mit, auch wenn die gerade nicht gebrauchten Leute chillend an eine Bar und an Tische mit Brettspielen zurückziehen. Sie sind immer da, auch wenn man allein sein will oder sich hoffnungslos allein gelassen fühlt.
Marion – so heißt die Grazer Biberköpfin – führt ausgiebige Monologe, die Pia Hierzegger geschrieben hat. Sie ist Schauspielerin, Autorin, die Vordenkerin der freien Theatergruppe. Nach und nach schlüpft jede der Darstellerinnen in die Rolle der Marion. Das bringt verschiedene, viel sagende Akzentuierungen und verstärkt das Gefühl: Marion ist eine Ur-Typische für unsere Zeit, und das stimmt depressiv, sie und das Publikum, auch wenn die Situationskomik und Textpointen manchen Grund zum Lachen geben.
Gruppen von Sprechern lassen Wortschwälle los, sagen querfeldein auf, was sich so auf Ankündigungs-, Verbots- und Hinweistafeln, auf Plakaten und Leuchtreklamen findet und auf uns Tag für Tag einprasselt. Das dient der Verortung und spiegelt Großstadtgetriebe. Ein weiteres gliederndes Element ist das Bewegungstheater, der Tanz. Chillen, tanzen, im Gleichschritt aber doch irgendwie aus dem Rhythmus gekommen – auch das ist suggestiv erdacht und ausgeführt.
Und ein drittes: Jeder der fünf Frauen-Monologe wird unterlaufen von g’spaßigen Szenen, die improvisiert wirken und in denen sich die Schauspieler, wie es scheint, sehr individuell einbringen dürfen: Rüpelszenen von Stadtmenschen, eine Skurrilitätenschau ihrer selbst verordneten oder aus Gruppenzwang sich ergebenden Schrullen und Verhaltensauffälligkeiten. Das hat im Detail auch sehr viel Witz, ist am Ende aber des Guten doch zu viel. Da hätte die Regie (Ed Hauswirth, Monika Klengel) kürzend eingreifen sollen. Brei wird nicht besser mit der Zahl der Köche, wie man aus dem Sprichwort weiß.
A propos Sprichwörter: Da gibt es eine burleske Szene, bei dem zwei Damen sich chromatisch die Tonleiter hinaufschrauben, dumme Lebensweisheiten singend: „Mit den Hühnern ins Bett und mit dem Hahn aufstehen.“ Taugen wohl nicht mehr im Stadtleben, die alten Rezepturen. Schon gar nicht, wenn man wie Marion Langzeit-Partner Bernhard eingebüßt hat, von Roman ausgenutzt wird und, wiewohl kein Kind der Traurigkeit, allmählich in tiefe Depression fällt. Mit Aufheiterungen: „Fred aus Nigeria, nach dem Multikultiball … mein erster Schwarzer.“ Ja, Marion hat es faustdick nicht hinter den Ohren, sondern zwischen den Beinen.