Fleisch und Blut und Tanzbein
GRAZ / RAMEAU / PIGMALION
19/04/23 Auf 14.000 Vorstellungen hat es Das Phantom der Oper in 35 Jahren auf dem Broadway gebracht. Das wäre im Barock in Paris natürlich nie und nimmer zu erreichen gewesen. Mit zweihundert dokumentierten Aufführungen ab der Uraufführung 1748 steht Rameaus Pigmalion im vor-revolutionären Frankreich aber ziemlich weit oben in den Charts der Barockoper.
Von Reinhard Kriechbaum
Pygmalion, der Bildhauer, verliebt sich in sein Werk, und das erwacht zum Leben – ein Dauerbrenner seit Ovid. Was musste eine Statue können im Paris des 18. Jahrhunderts, um ihre Lebendigkeit zu beweisen? Tanzschritte muss sie lernen in Jean-Philippe Rameaus Fünfzig-Minuten-Stück, das folgerichtig nicht als Opera, sondern als Acte de ballet ausgewiesen ist.
Menuett, Gavotte, Bourré, Loure, Chaconne – das gehörte für die tanzverliebte Gesellschaft zum kleinen Einmaleins der Gesellschaftsfähigkeit. All diese Tanzmuster kann man auf knappem Raum in dieser Petitesse hören. Ihre ersten langsamen Schritte unternimmt die Fleisch und Blut und Tanzbein gewordene Statue zu einer Sarabande. Glück für Pigmalion, dass der Stoff zum klassischen europäischen Mythen-Kanon rechnet. Für Rameaus große Ballettoper Les Indes galantes muss man heutzutage im Sinne der Cancel culture ja erst alle Verdachtsmomente auf Eurozentrismus und kulturelle Aneignung beiseite räumen. In Pigmalion ist aber eigentlich alles auf engstem Raum destilliert, was Rameau ausmacht.
Opern-Kurzgenuss heißt eine schon seit vielen Jahren gut eingeführte Reihe in der Grazer Oper. Oft sucht man dafür ausgefallene Spielorte. Das „Schaumbad“, ein zum Atelierhaus umfunktioniertes Gebäude in der Gewerbegebiets-Pampa der Stadt, ist ein stimmiger Aufführungsort, auch wenn man in dem Ausstellungs- und Veranstaltungsraum alle Hinweise auf das aktuelle bildnerische Schaffen dort weggeräumt und durch reizvolle Papierknitter-Dekoelemente ersetzt hat. Blütenweiß flauschige Poesie ist denn auch das visuelle Motto dieser Aufführung, für die man mit dem Institut für Alte Musik und Aufführungspraxis der örtlichen Musikuniversität kooperiert.
Die Geigerin Susanne Scholz hat das Orchester zusammengestellt. Besonders stolz ist man an dieser Ausbildungsstätte für Alte Musik auf den stark ausgebauten Variantfachbereich – wer hier studiert, bekommt also viele fächerübergreifende Perspektiven mit. In diesem Fall steht logischerweise der Tanz im Mittelpunkt. Edith Lalonger hat die feine Choreographie erdacht und bringt auch als eine von drei tanzenden Grazien die Statue zum Tanzen. In den Tanzschritten finden sich alle gut zurecht, selbst der Cembalist wird einmal von seinem Instrument weggeholt (ein Ersatzmann steht bereit). Elke Steffen-Kühnl hat gar wundersame Kostüme erdacht, sogar für die Musikerinnen und Musikern des Orchesters.
Der Tenor Mario Lerchenberger (er ist Ensemblemitglied der Oper) nimmt wendig all die Angebote der Instrumentalisten auf, viele im besten Sinn malerische Seccorezitative, keine ermüdenden Da-capo-Arien. Bestvorbereitet und stilkundig die Gesangsstudentinnen für die im Vergleich zur Hauptfigur mit wenigen Aufgaben bedachten Frauenrollen. Übrigens: Was Pigmalions Gattin Céphise zur Liebe ihres Gatten zur lebefrischen Nebenbuhlerin sagt, wird auch in dieser Version nicht angesprochen. Wenigstens wird die beklagenswerte Dame in den abschließenden allgemeinen Tanz integriert...