Vom Rap zum Kaddish
WIEN / JELINEK / RECHNITZ
17/01/21 Anna Bergmann macht aus Elfriede Jelineks Rechnitz (Ein Würgeengel), diesem Klassiker über die Unmöglichkeit einer objektiven Sicht auf die Vergangenheit, im Theater in der Josefstadt einen krassen Totentanz. Aber sie findet dann doch zu einer eindringlichen Ruhe, die einen packt nach aller Überdrehtheit.
Von Reinhard Kriechbaum
Jeder Tanz hat ein Ende, sogar ein Totentanz. Und dann ist's eben Schluss mit Drehungen, mit Ver-Drehungen. Der Vorhang ist gefallen, die Gräfin (Sona MacDonald) wirft ihre grüne Abendrobe ab, streift ein unauffälliges schwarzes Kleid über. Zum ersten Mal in diesen knapp zwei Stunden, in denen sie als Diseuse so etwas wie die Stimmungsmacherin der Ungestimmtheit war, hebt sie zu einem großen Monolog an: „Ertrage mich jetzt, liebes Land“, will sie den Zeitzeugen und den Nachgeborenen ins Stammbuch schreiben. Was für ein Ansinnen von einer, die wahrscheinlich an einem der größten Kriegsverbrechen im Land mitbeteiligt war!
Aber so genau weiß man das ja nicht und will es so genau auch nicht wissen. Auch nach einem Dreivierteljahrhundert nicht. Ja, es gab dort ein nächtliches Massaker an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern. Eine Abendgesellschaft im Schloss einer Gräfin Batthyàny-Thyssen hat sich, sozusagen als Mitternachtseinlage ihres Fests, ans Abknallen der armen Teufel gemacht. Von „hohlen Menschen“, ist bei Jelinek öfters die Rede, „the hollow men“ in Anlehnung an T. S. Eliot: ausgehöhlt, entleert aller Menschenwürde, ausgeronnen in die Nicht-Erinnerung. Das Massengrab ist bis heute nicht gefunden worden. Im burgenländischen Rechnitz ist, ganz im Wortsinn, Gras über die Sache gewachsen.
Mit Rechnitz (Der Würgeengel) hat die Jelinek so etwas wie die Ur-Parabel über die Täter/Opfer-Lüge geschrieben. „Boten“ lässt sie zu Wort kommen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven heran arbeiten an vage Vermutetes oder willentlich Vergessenes, an schönfärberisch zurecht Formuliertes oder besserwisserisch Eingemahntes. Viel ist hineingepackt in diesen Text, in dem die Jelinek nicht nur mit den für sie typischen Wort-Verdrehungen und -Verbiegungen arbeitet, sondern raffiniert auch mit Vorvergangenheit und Vorzukunft jongliert. Damit stellt sie die Lauterkeit aller Geschichts-Betrachtung grundsätzlich in Frage.
Mit diesem Hinterhältig-Vagen gibt sich Anna Bergmann, Regisseurin der Produktion im Theater in der Josefstadt, scheint's nicht so gern ab. In ihrer Spielfassung sind die Boten zu sehr konkreten Figuren mutiert. Da gibt’s einen Waffenmeister, Nazi-Bonzen und dienstbares Personal sonder Zahl. In einer Episode landen sie alle in einer Fernseh-Quasselshow, und gegen am Ende begegnet uns die Gruppe, verjüngt, als Garten-Grill-Gesellschaft.
Immer aber sind es Gestalten eines Totentanzes. Diesem Genre eignet seit dem Mittelalter ein Hang zum Überzeichnen, zum Karikieren, und so hält's auch Anna Bergmann. Sie bringt eine kolorierte Holzschnittfolge bildmächtig in Bewegung. Die Drehbühne steht fast nie still. Es wird herumgeballert auf Teufel-komm-raus. Keine Sorge, Erschossene tauchen gleich wieder auf, als Wiedergänger ihrer selbst. Diese Personnage ist nicht tot zu kriegen – was eh die Jelinek auch so sieht. Aber der feinen Ambivalenz, der stets lauernden Bosheit ihres Texts wird diese über-turbulente Inszenierung nicht so gut gerecht. Irgendwie wünscht man sich dann doch Jelineks „Boten“ herbei, und mit ihnen auch mehr reflektive Ruhe.
Auf der Habenseite zu verbuchen: Hier ist ein Ensemble am Werk, in dem so gut wie alle das lokale Idiom drauf haben. Jelinek mal ganz „österreichisch“ – das passt in die Josefstadt, wo man übrigens mit Rechnitz (Der Würgeengel) das erste Mal ein Stück der Literaturnobelpreisträgerin bietet. Ein Kapitel für sich ist die Musik von Moritz Nahold und Heiko Schnurpel. Ein Panoptikum, zugleich Pandämonium vom Rap bis zum Opern-Rezitativ, vom Volkslied bis zum Jägerchor aus dem Freischütz. Und immer Sona MacDonald ganz vorne. Sie trifft in jeder Musik-Lebenslage den rechten Tonfall.
Ihr gehört auch das Ende – und dieses Ende hat's dann doch in sich, weil es sich so entscheidend von der Dauer-Betriebsamkeit zuvor abhebt. Da ist also die Gräfin allein. In einem Video sehen wir sie am Ort des Geschehens. Sie sammelt Steine ein (Knochen der irgendwo dort unter einem Acker Ruhenden gibt’s ja nicht), sammelt sie in einem Tuch und stimmt für sie das jüdische Totenlied, das Kaddish an. „Das Vergangene ist nicht Musik in unseren Ohren“, hat Elfriede Jelinek in einem Essay über Rechnitz geschrieben. Hier ist es doch Musik – fast wirkt es wie eine Wiedergutmachung sträflichen Vergessens.
www.josefstadt.org
Bilder: Theater in der Josefstadt / Philine Hofmann