Im Schweinsgalopp in die Postmoderne
WIEN / BURGTHEATER / JELINEK
06/09/21 Eine Schweinerei ortete Elfriede Jelinek für ihren Text Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! in Pandemie-Zeiten. Eine nicht geringere als damals im alten Griechenland, als die Zauberin Kirke alle menschlichen Wesen, die sich auf ihre Insel verirrten, in Tiere verwandelte.
Von Reinhard Kriechbaum
Da wimmelte es also, so Homer, von „starkklauigen Löwen und Wölfen“, und dazu kam nach Odysseus' Eintreffen eine (eh schon recht klein gewordene) Ex-Matrosencrew von Schweinen. „Senkrechte Schweine“ (© EdgarAllen Poe) sah die Jelinek in geübter Manier auch im Tiroler Ballermann-Skiort Ischgl, der sowieso in ihr Österreich-Bildrepertoire gehört. Ausgewachsene Ferkel also unter Corona-Verbreitern wie unter Corona-Leugnern, bei denen es wiederum solche an den Schaltstellen der Macht wie unter den tumben Halligalli-Mitläufern gibt. In dem achtzigseitigen Textflächenmonster kriegt die Fleischindustrie auch noch reichlich Schweinefett ab.
Diesen Textwust allein vorzulesen brauchte es, Pi mal Daumen geschätzt, wohl sieben oder acht Stunden. Mit dreien ist Karin Beier für die Uraufführung im Juni des Vorjahres im Deutschen Schauspielhaus Hamburg ausgekommen. Frank Castorf braucht jetzt im Akademietheater eine Dreiviertelstunde länger. Die Jelinek'sche Vorlage war ihm nämlich zu wenig. Da wird fleißig nachgebessert mit – naheliegend – Homer und Daniel Defoes Die Pest in London. Die Fleischfabrik-Schweinerei wird mit Fahim Amirs Schwein und Zeit vertieft und die Gesellschafts-Hierarchie mit Max Horkheimers Skizze Der Wolkenkratzer in voller Höhe ausgemalt. Um das Peinigende auch nicht abflachen zu lassen, schließlich noch die kurze Erzählung Die Marter der Hoffnung von Auguste Villiers d'Isle Adam. Da geht es um einen Rabbiner und einen Großinquisitor, um unterschiedliche Blickwinkel aufs Konstrukt Wahrheit und um trügerische Hoffnungen auf Befreiung.
Das alles hinein zu bringen, hat gute Gründe, aber auch einen hohen Preis. Der Jelinek und der Ur-Regisseurin in Hamburg ist ja vorgeworfen worden, dass sie in Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! wortspielend, wortklingelnd und mit abgegriffenen Bildern eher an der Oberfläche blieben. Das kann man Frank Castorf so sicherlich nicht nachsagen. Klar, eine Ischgl-Episode musste rein, und in Wien darf unser Bundeskanzler nicht fehlen, als kakophone Video-Einspielung und als Figurine mit überdimensionalem Kopf. In Castorfs Panik-Theater kommt die Gesellschaftskritik doch einigermaßen fokussiert rüber, so man's im allgemeinen Rumor mitbekommt. Dafür ist dem Textanteil, der dann gar nicht so furchtbar groß ist, alle Eigenart rausgestrichen. Die saftigen Kalauer, die ein Gutteil der Jelinek-Eigenart ausmachen, sind Castorfs Sache ganz und gar nicht. Ohne sie aber geht doch viel literarischer Eigen-Wert, auch Eigen-Sinn verloren.
Manches aus der Textflut wird von der Bilderflut und der krassen Lautstärke einfach überdeckt und unverständlich. Mit der Videokamera und dem Mikrophon an einer langen Stange werden die Schauspieler bis in die verborgensten Bühnenwinkel verfolgt. Die riesenhafte Projektionswand geht oft auf und ab, meistens füllt sie eine Bühnenhälfte. Aleksandar Denić hat eine Bühne gebaut, die Spielräume zuhauf bereit hält: Ein gut sieben Meter hoher schwarzer Hohlkopf steht da. Klappmaul, seitwärts eine Coca-Cola-Reklame. Laut Leuchtschrift 24/7 geöffnet – dafür wird das innen mit Renaissance-Liliendekor ausgemalte Ding eigentlich selten betreten. Viel öfter spielt sich's hinter einem Lattenzaun ab, wo ein best-bürgerliches Wohnzimmer mit allerlei Antiquitäten-Sitzmöbeln eingerichtet ist. Oder auf der Unterbühne, wohin eine eiserne Treppe fürt. Dort ein Gitterverlies mit mehreren Kisten voller Bananen. Eine steinerne Ballustrade wird zum Tresen in der Ischgler Skibar umfunktioniert. Ein Bankomat steht auch da, der wird mal geplündert.
Kirke (Andrea Wenzl) nimmt gleich mal in der ersten (Video-)Szene dem nach Luft japsenden Branko Samorowski die Sauerstoffmaske weg. Wer welche Rolle(n) spielt, ändert sich von Episode zu Episode. Dörte Lyssewski taucht mit charakteristischer Frisur und ausgiebigem Lippenstift-Rot als Jelinek-Doppelgängerin auf (man denkt zuerst an eine Art Kassandra). Was für ein tollkühnes Kostüm- und Kopfputz-Gemisch der drei Damen (zu den genannten noch Marie-Luise Stockinger) in der Ischgl-Szenen. Als seien alle drei irgendwelchen Zauberflöten-Inszenierungen als Königinnen der Nacht entkommen! Das alkohöllisch verbrämte Frauenbild männlicher Halligallo-Touristen wird aufs Heftigste durchdekliniert. Überhaupt die tendenziell chaotische anmutende Bilderflut. Wären Säue Reittiere, würden wir sagen: Es geht im Schweinsgalopp durch die Postmoderne.
Für Leisheit steht Castorf sowieso nicht: Es wird nach Leibeskräften geschrien, die Musik entsprechend aufgedreht, und nochmal drübergeschrien. Marcel Heuperman hat gegen Ende, wenn Pseudo-Schweine in einer Heuballen-Arena in unterschiedlichstem Outfit endgültig die Sauerei besiegeln, einen exzessiven Monolog, der ernsthaft um seine Stimmgesundheit bangen lässt. Es war schon sehr verdient, dass über dem sich schweißtreibend verausgabenden Ensemble nach der Österreichischen Erstaufführung am Samstag (3.9.) im Akademietheater ganz viel Beifall niedergegangen ist, in den Castorf und sein Team einbezogen wurden. Keinerlei Widerspruch.
Ach ja, das echte Schwein. Es hört, verrät das Programmheft, auf den Namen Edmund. War aber nicht sehr spielfreudig und ist, anstatt über die strohbeckte Bühne in Richting Bankomat zu laufen, in einer Ecke stehen geblieben. Links Sitzende werden's vielleicht gar nicht wahrgenommen haben, aber die allgemeine Turbulenz ist sowieso dazu angetan, manches zu übersehen und zu überhören.
Weil Österreich ja zwei Höchstgeehrte anzubieten hat, ist in Wien jetzt gleich ein Castorf-Doppel in Sachen Literanturnobelpreisträger angesagt: Peter Handkes 2020 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführtes Stück Zdenek Adamec kommt am 18. September im Burgtheater heraus.