Frust, Aggression, Apokalypse
GRAZ / SCHAUSPIELHAUS / VERNON SUBUTEX
27/09/19 „Leute, die an nichts zweifeln, nicht einmal an der eigenen Intelligenz, obwohl sie das dringendst tun sollten“: Damit in etwa ist die reichhaltige Personnage der Roman-Trilogie Vernon Subtex von der Französin Virginie Despentes hinlänglich umschrieben. Mit einer über viereinhalbstündigen Dramatisierung eröffnete das Schauspielhaus Graz seine Spielzeit.
Von Reinhard Kriechbaum
„Die Informationen schießen durch, und ich sortiere“ sagt einer, und er konstatiert: „Tempo und Omnipräsenz … das ist ein Krieg und ich bin sein Söldner.“ Aber: „Das Problem ist, dass ich einfach kein Selbstmord-Typ bin.“ Also eine Art Schubumkehr, Aggression nach außen. Alle kauen in irgendeiner Form am Scheitern im Kleinen und im Großen. Bei allen kann man verstehen, dass sich das Aufgestaute entlädt. „Islamophob im Namen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, heißt es einmal mit einer Ironie, die einen vor den Kopf stößt.
Regisseur Alexander Eisenach und das Ensemble haben Virginie Despentes' Bücher ausgeschlachtet und ein Pandämonium entworfen von so sehr Empörten, die selbst bekennenden Wutbürgern das Blut in den Adern gefrieren lassen. Da ist der hoffnungslos aus der Zeit gekippte Popstar, der in der Badewanne sitzt, als ob er den „Tod des Marat“ nachstellen wollte. Da ist die mit allen Wassern gewaschene Porno-Queen, der Menschen- und Männerverachtung genau so wie die Verzweiflung darob ins Gesicht geschrieben stehen. Der Filmproduzent ist ein eingefleischter Womanizer und Schweinehund. Ein durchgeknallter Börsenmakler, eine themenlose Musikjournalistin, ein desorientierter Galerist, zwei Transsexuelle – in Summe anderthalb Dutzend Menschen, eigentlich Intellektuelle und mehrheitlich aus besserem Milieu, sind hineingekippt ins zeitgeistige Gefühl, auf der Verliererbahn, in die Spirale abwärts geraten zu sein. Alle quasseln endlos, und alle haben begründete Argumente für ihren Radikalismus – aber sie denken dann doch um mindestens einen Schritt zu wenig weit.
Videoprojektionen spielen in der Grazer Aufführung eine zentrale Rolle. Bei einer Party (der als Ganzes uneinsichtige Raum taucht aus der Unterbühne auf und verschwindet wieder) treffen all die Leute aufeinander, Handkamera und Mikrophon verfolgen sie pausenlos. Projektion, Drehbühne, grelle Lichteffekte – in Summe ein schwankendes Wimmelbild aus heutigen Menschen. In dieser Meute der Desperados wird jeder im Publikum eine Figur finden, mit der er sich zumindest ansatzweise identifizieren kann. So überdreht das alles aussieht, es ist uns beängstigend nahe. Und so sehr einen das Grauen kommt ob des sich in Houllebecque'scher Manier entladenden Ausländer- und Frauenhasses, wird aus dem Roman eine nicht geringe Dosis an Selbstironie auf die Bühne gerettet, ja sogar noch verstärkt. Die vier Stunden Netto-Spielzeit sind dann doch irgendwie erträglich.
Die Lautstärke, das Tempo, die Grellheit: Ein Abgehärtet-Sein gegen Videoclips und neue Medien ist durchaus angebracht, um das alles auszuhalten. Regisseur Alexander Eisenach steigt ein auf die Schnellebigkeit unserer im Infotainment hoffnungslos verhedderten Welt und er öffnet im sich geradezu überschlagenden Tohuwabohu den Einzelnen doch weite Sprech- und Gedankenräume: Da sehen wir scharf auf die Psychologie der Figuren, erkennen plötzlich, wie und was schiefläuft in diesen malträtierten, getriebenen Seelen.
Ach ja, Vernon Subatex selbst: Der Vinylplattenhändler hat geschäftlich Schiffbruch erlitten, aber einer, der so gestrig ist wie er, taugt zum messianischen Anführer der Zeitgeist-Verführten, die mit ihm auf ein Fanal und eine Apokalypse zugleich zusteuern. Aber das kann man fast nicht beschreiben. Auf diese multimediale, mit Musik gefüllte Bühnenorgie muss man sich einlassen. Von dem Nerven und Sitzfleisch strapazierenden Theaterabend geht ein eigenes Faszinosum aus.