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Dem Andenken eines Engels

REST DER WELT / GRAZ / LULU

30/04/10 Der Weg der Verführerin füllt sich mit Opfern, die nicht einfach von der Bildfläche verschwinden. Im zweiten „Lulu“-Akt, im Hause des Doktor Schön, bevölkert schon eine ansehnliche Menagerie aus Lebenden und Untoten die Szene.

Von Reinhard Kriechbaum

altAber fangen wir unbedingt mit der Musik an: Der Grazer Opernchef Johannes Fritzsch hat, wie man weiß, einen analytischen Blick – und er schafft es zugleich, aus einer durchsichtig umgesetzten Partitur doch die nötigen Funken zu schlagen. So ist diese neue Grazer „Lulu“, die am Donnerstag Premiere hatte, in jedem Moment durchpulst von tänzelnden Rhythmen, elastisch und federnd in den Tempi. Da dürfen schon mal die Streicher lustbetont aufrauschen, etwa zu den kessen Koloraturen der Lulu, wenn sie Doktor Schön entgegenschleudert, dass er so viel vermeintlich Gutes getan habe für sie, aber „Du konntest doch nicht Dich selbst betrügen“.

Glücklich ein Haus, das eine solche Hauptrolle aus dem eigenen Ensemble besetzen kann – und glücklich, wer über nicht ganz zehn Jahre, eingebettet in ein Ensemble, in Ruhe zu einer stimmlich gefestigten im Rollendebüt-Ernstfall dann so gar nicht aufgeregt wirkenden Lulu reifen kann: Die Slowakin Margareta Klobucar ist gewiss ein Glücksfall für die Titelrolle, denn ihr eignet auch ein soubrettenhafter, fast naiv-natürlicher Flair. Vielleicht ahnt diese Lulu ihre Wirkung mehr im Unterbewusstsein. Natürlich: Kalblütig ist sie im entscheidenden altMoment. Eine, die nicht nur über Leichen geht, sondern gleich am Beginn sogar noch den Kopf an die Schulter des toten Ehemanns (des Medizinalrats) lehnt, wodurch der Dialog mit dem Maler zum flotten Dreier wird ...

Überhaupt lässt der junge Regisseur Johannes Erath die Protagonisten in ihren Dialogen selten allein. Die Toten bleiben untot nahe, und die künftigen „Opfer“ der Männer-Fresserin (auch die Gräfin Geschwitz) tauchen vorab schon auf. Das Karussell dreht sich wohl unerbittlich.

Diese „Lulu“-Produktion bestätigt, dass man in Graz derzeit stark auf Ensemblequalität setzt. Ohne Gäste geht es natürlich nicht ab bei „Lulu“. Iris Vermillion (Gräfin Geschwitz) ist ebenso „zugekauft“ wie der im Lauf des Abends nicht nur famos an Höhen-Strahlkraft, sondern auch an Charisma gewinnende Herbert Lippert als Alwa. Er steckt in einem grauen Dutzendware-Anzug, trägt eine altmodische Brille - und ist in dieser zur Schau getragenen Kleinbürgerlichkeit, eben weil so „uncool“, die letzte Herausforderung für Lulu.

Auch Ashley Holland (Dr. Schön) hat etwas Tapsiges, der Maler (Taylan Memioglu) ist programmierte Zwischenstation auf Lulus Männerliste. Er befördert sich mit enorm viel Blutverlust ins Jenseits. – altAber all diese Figuren sind nicht eindimensional, gewinnen dank der Unterstützung aus dem Orchestergraben ebenso wie in der jeweiligen sängerischen Gestaltung Profil. Das gilt für Wilfried Zelinka (Tierbändiger/Athlet) ebenso wie für Manuel von Senden (Prinz/Kammerdiener), setzt sich fort in kleinere Rollen (Dashmilja Kaiser als Gymnasiast, David McShane als Medizinalrat und Theaterdirektor). Es wird wortdeutlich gesungen, und doch ist die Übertitelung sehr willkommen.

Was für eine Geschichte erzählt nun Regisseur Johannes Erath (dem die ungeteilte Sympathie des Premierenpublikums gegolten hat)? Er lässt am Beginn (zu Musik von der Konserve) Lulu mit schwarzer Perücke einsam vor dem Grammophon sitzen – und am Ende wird er dieses Bild wiederholen (natürlich: zum langsamen Satz des Berg-Violinkonzerts, altdem „Andenken an einen Engel“). Zum Adagio aus der Lulu-Suite gibt es dann noch eine statistenreiche Abrundung.

Das mag auf den ersten Blick karg anmuten (auch von der Ausstattung her) – im Detail scheut Johannes Erath dann nicht vor barocker Fabulierlust zurück. Eine der stummen Figuren ist eine gertenschlanke Dame mit rasiertem Kopf, jenes Alter Ego von Lulu, dem sich die Männer ebenso oft zuwenden wie der „echten“ Verführerin. Dass sie Trug- und Scheinbildern aufsitzen, dass sie eigentlich ihren Trieben und nicht einem echten Wesen aus Fleisch und Blut hinterher hecheln, wird in durchaus gängigen Klischee-Bildern ausgebreitet. Mit stummen Rollen arbeitet der Regisseur gerne, eine schwarz gekleidete verschleierte Dame wird schon in der ersten Szene (im Zuschauerraum) eingeführt, die Braut des Doktor Schön taucht ebenfalls leibhaftig auf und beobachtet die Theaterszene von der Proszeniumsloge aus.

Immer wieder wird uns etwas schulmeisterlich vorgeführt, dass wir uns möglichst betroffen fühlen und wiedererkennen sollen. Ob da weniger nicht mehr gewesen wäre, bleibe dahingestellt. Insgesamt ist es eine seriöse Umsetzung auch szenisch – aber die musikalische Komponente bleibt deutlich nachdrücklicher im Gedächtnis.

Aufführungen bis 23. Juni. - www.buehnen-graz.com
Bilder: Grazer Oper / Werner Kmetitsch

 

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