Gewalt , Sex und apokalyptisches Ende
REST DER WELT / ZÜRICH / DIE SOLDATEN
02/10/13 Fast fünfzig Jahre nach der Uraufführung ist Bernd Alois Zimmermanns epochales Werk „Die Soldaten“ auch im Opernhaus Zürich angekommen. Alexander Pereira hatte es für „sein“ Opernhaus im Neo-Rokoko-Stil wohl für ungeeignet gehalten.
Von Oliver Schneider
In Salzburg erlebte das Werk bereits in Pereiras erstem Sommer seine gefeierte Erstaufführung, wenn auch eigentlich als Lückenbüßer. Pereiras Nachfolger Andreas Homoki setzt die jedes normale Opernhaus an die Leistungsgrenzen bringende Oper gleich in seiner zweiten Spielzeit auf das Programm und beweist, dass man „Die Soldaten“ auch im Bühnenalltag eines kleiner dimensionierten Hauses zeigen kann. Wohlweislich gleich zur Saisoneröffnung im September als Paukenschlag, wenn sich alle Mitwirkenden mit gut erholten Kräften dem Unterfangen widmen können.
Für die Regie hat Homoki den Katalanen Calixto Bieito verpflichtet, der mit seinen ungeschönten Darstellungen von Gewalt und Sex für manchen Opernbesucher immer noch ein Enfant terrible ist. Das in der Vergangenheit im Vergleich zu Zürich sehr viel offenere Theater Basel hat ihn heuer übrigens als Artist in Residence eingeladen. Aber dank Homoki holt das Opernhaus Zürich ja nun regiemässig auf.
Wer „Die Soldaten“ in der Felsenreitschule in Salzburg erlebt hatte, musste sich fragen, wo das dort im Graben platzierte Orchester in Elektra-Größe und die über den Eingängen postierten Schlagzeuggruppen in Zürich Platz finden sollen. Rebecca Ringst hat auf der Bühne ein gelbes Gerüst mit verschiedenen Ebenen platziert, auf dem die Musiker der Philharmonia Zürich in Soldatenuniformen spielen. Der geschlossene Graben dient als Spielfläche für das grosse Ensemble, womit das Publikum die drei Handlungsstränge hautnah erlebt und die als Soldaten gekleideten Musiker als latente Bedrohung wahrnimmt.
Die Handlungsstränge laufen in dem vom Komponisten selbst verfassten Libretto nach Jakob Michael Reinhold Lenz Komödie „Die Soldaten“ zum Teil parallel ab: Maries Fall von der Bürgerstochter zur Soldatenhure gleich einer Lulu, die am Ende nicht einmal mehr von ihrem Vater erkannt wird, die Wozzeck-ähnliche Entwicklung ihres ersten Geliebten Stolzius zum rächenden Mörder und Selbstmörder. Und schließlich das Porträt einer Soldatenwelt, in der verrohte Lebewesen nur noch gewalttätig miteinander umgehen können, sich Opfer für Erniedrigungen suchen und ihren Trieben ungehemmt freien Lauf lassen. Bieitos Bildsprache ist hier richtig am Platz, doch auch in den anderen beiden Strängen spielen die körperliche Gewalt und seelische Unterdrückung eine zentrale Rolle, zum Beispiel im Streit zwischen den beiden Schwestern Marie (großartig Susanne Elmark) und Charlotte (Julia Riley). Dass Marie ihr Schicksal übrigens vorausahnt, bringt Elmark in einem verzweifelten Ausbruch in der fünften Szene des ersten Akts eindringlich zum Ausdruck.
Bieitos „Soldaten“ sind zwar kostümmässig in der Zeit der Uraufführung verortet, wirken aber ob ihrer Anklage in den Massenbildern und der genauen Zeichnung der Personen zeitlos. Und das, ohne zu belehren. Stolzius (Michael Kraus mit robustem Bariton) ist von Anfang an als psychisch Angeschlagener gezeichnet, Pirzel (mit schneidendem Charaktertenor Michael Laurenz) ist ein undurchsichtiger Geheimdienst-Spitzel, Mary ein unangenehmer Mitläufer, bei dem das Böse nur langsam an die Oberfläche dringt (sehr textverständlich Oliver Widmer). Etwas blass wirkt Maries Vater Wesener (Pavel Daniluk), ein braver Durchschnittsbürger auf den ersten Blick, Desportes‘ Charakter (Peter Hoare) trieft nur so von Selbstgefälligkeit. Weseners Mutter (wie in Salzburg Cornelia Kallisch) hängt schon am Tropf. Eine präsente Wiederbegegnung erlebt man mit Hanna Schwarz als Stolzius‘ Mutter, und Noëmi Nadelmann ist eine alkoholabhängige Gräfin de la Roche, die Marie zwar nicht ihrem Söhnchen gönnen will, dafür selbst eindeutige Avancen macht. Es gäbe noch viele Namen zu nennen, aber an dieser Stelle sei einfach pauschal die Gesamtensembleleistung aller Protagonisten – und auch Statisten – als schlicht phänomenal erwähnt.
Unter der souveränen Leitung von Marc Albrecht bewältigt die gut erholte, hervorragend vorbereitete Philharmonia Zürich die serielle Komposition mit den tonalen Zitaten von Bach-Chorälen, Jazz- und Volksmusikanklängen, Rückgriffen auf barocke Formen und sich überlappenden Szenen mit Bravour. Unterstützt wird Albrecht bei der Koordination durch seinen Assistenten Michael Zlabinger in der ersten Parkettreihe, da er selbst den Protagonisten ja den Rücken zudreht. Anders als in Salzburg erklingen die Originaltonbänder mit der Atomkatastrophe als apokalyptischem Schluss. Bedrohungsszenarien mögen aktuell anders aussehen, ihre beklemmende Wirkung haben die Tonbänder aber nicht verloren. Unabhängig davon, was sich der einzelne im Moment vorstellt.