Nach Zürich oder in den USA eine Stadt Wahnfried gründen?
REST DER WELT / ZÜRICH / NEUENFELS-URAUFFÜHRUNG
19/06/13 Fiktiver Zwischenstopp des Jahresregenten 1882 in der Schweiz, beschrieben, gedeutet und interpretiert von Hans Neuenfels im Rahmen der Zürcher Festspiele: „Richard Wagner – Wie ich Welt wurde“
Von Oliver Schneider
An Richard Wagner kommen auch die Zürcher Festspiele heuer nicht vorbei. „Treibhaus Wagner“ lautet das Motto, unter dem sich die Zürcher Kulturinstitutionen mit dem Jahresregenten, seinem Werk und seiner Gedankenwelt befassen. Konzerte, Lesungen, ein mobiles Schauhaus – zurzeit am Bellevueplatz –, ein Sommerpavillon im Park der ehemaligen Villa Wesendonck, eine Ausstellung im Kunsthaus über die Aufführungsgeschichte der Werke. Das Programm ist dicht und stünde in seiner Breite anderen gewichtigen Festivals ebenso gut an.
Als Koproduktion zwischen Opern- und Schauspielhaus gab es zur Eröffnung die Uraufführung von Hans Neuenfels‘ Fantasie mit Musik „Richard Wagner – Wie ich Welt wurde“. Neuenfels lässt Richard und Cosima Wagner ein Jahr vor seinem Tod in Venedig (1883) fiktiv in Zürich Station machen. Dort trifft er im Traum und in Rückblenden auf Weggefährten und prägende Persönlichkeiten aus seinen Zürcher Exiljahren von 1849 bis 1858. Natürlich auf die Wesendoncks, auf den trinkseligen Gottfried Keller, auf Charles Baudelaire, seinen Schützling Karl Ritter und König Ludwig II. Zum Teil haben sie längst das Zeitliche gesegnet, andere hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Und immer wieder kommt Wagner die Musik in den Sinn: seine eigene (in Bearbeitungen für Kammerorchester von Arno Waschk), von seinem Schwiegervater Franz Liszt, von seinem vermeintlichen Pariser Antipoden Giacomo Meyerbeer (nur vom Band) sowie ein jüdisches Lied.
Wesendonck hält Wagner seine hetzerischen Aussagen in seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ vor, vor allem sein erneutes Bekenntnis in der späten Schrift „Religion und Kunst“, die Cosima mit Vehemenz verteidigt. Neuenfels interessiert sich nicht nur für die wesentlichen Marksteine und gedanklichen Eckpfeiler in Richard Wagners Biographie, sondern will auch den dominierenden Einfluss seiner zweiten Frau deutlich machen. Wer sonst als Elisabeth Trissenaar könnte das besser? Sie verkörpert auch die Zürcher Muse Mathilde Wesendonck, wodurch die Parallelen zwischen den beiden Frauen deutlich werden. Robert Hunger-Bühler gibt an ihrer Seite kongenial den alternden Wagner als Philosoph.
Neuenfels‘ erzählender Blick ist individuell, nicht der eines Historikers oder Biographen. Deshalb vergeht der erste Teil des knapp dreistündigen Abends trotz einiger Plattheiten relativ rasch. Der im Tagebuch von Cosima fixierte Gedanke, nach Amerika auszuwandern und die Stadt Wahnfried zu gründen, die fiktive taubstumme Sängerin, die Elsas Traum vortragen darf (stimmlich interessant Emma Vetter) und nur bei Musik Wagners hören und sprechen kann, ein Auftritt von Zürcher Bürgern aus Wagners Exiljahren sind Szenen wert. Nach der Pause würden Kürzungen den Anfangs-Drive aufrechterhalten. Immerhin darf die Kammerformation der Philharmonia Zürich noch mit dem Lohengrin-Vorspiel und das tadellose Gesangsensemble mit dem Quintett aus dem „Meistersingern“ aufhorchen lassen. Dass Ludwig II als Transvestit um Wagners körperliche Liebe betteln muss, ist mehr peinlich als dass es Neues zum gespaltenen Verhältnis der beiden Persönlichkeiten bietet.
Gespielt wird die Koproduktion in der Schiffbauhalle, in die Stefan Mayer für Autor und Regisseur Neuenfels eine Guckkastenbühne platziert hat. Der klassizistisch weiße Raum gibt durch den offenen Türrahmen den Blick auf die Alpen frei. Für die Kostüme von Elina Schnizler standen die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und für die Sängersolisten die Zeit von Wagners wirklichem Zürcher Aufenthalt Pate.
Die Idee, sich 2013 einmal auf diese Art dem Phänomen Wagner zu nähern, ist insgesamt zu würdigen. Wirklich neue Denkanstöße bietet Neuenfels allerdings nicht, so dass seine Bayreuther „Lohengrin“-Ratten dem durchwachsenen Abend immer noch vorzuziehen sind.