Belcanto-Freuden in der Schweiz
REST DER WELT / ZÜRICH / ST. GALLEN
24/11/10 Juan Diego Flórez, Antonino Siragusa und Lawrence Brownlee sind derzeit die wohl besten Belcanto-Tenöre weltweit – gleich alle drei konnte man in Zürich und St. Gallen innerhalb einer Woche bewundern.Von Oliver Schneider
Belcanto-Fans sind auf ihre Kosten gekommen:Eine Premiere von Rossinis „Wilhelm Tell“ in der französischen Originalfassung, eine neue „Sonnambula“ von Bellini im immer wieder für Überraschungen guten Stadttheater St. Gallen und schließlich drei Liebestrank-Repertoire-Aufführungen mit Juan Diego Flórez als Nemorino.
Neben Flórez standen auch zwei andere Vertreter aus der allerersten Liga der Belcanto-Tenöre auf der Bühne: Antonino Siragusa und Lawrence Brownlee. So bot sich ein Vergleich an, auch wenn die drei Star-Tenöre in Partien mit unterschiedlichen Anforderungen zu hören waren. Gebührt einem von ihnen die Krone?
Um es gleich vorweg zu nehmen. Flórez wird wohl zurzeit niemand eine Ausnahmestellung in diesem Fach streitig machen wollen. Dem Ruf wurde er auch im Zürcher Opernhaus gerecht, wo er selbstverständlich nach ersten Standing Ovations die „Verstohlene Träne“ im zweiten Aufzug wiederholte. Was soll man mehr hervorheben: die perfekte Fokussierung, die Geschmeidigkeit seiner Stimme, seine rhythmische Präzision oder sein breites Register an Stimmfarben? Auch darstellerisch erreicht er heute eine Qualität, die hinter seinem stimmlichen Können nicht mehr zurücksteht. Vor allem sein Spielwitz kommt ihm in dieser auch nach 15 Jahren noch gut funktionierenden Inszenierung von Grischa Asagaroff zugute. Zumindest im Spiel kann der Rest des Ensembles bestens mithalten, vor allem Alfonso Antoniozzi als Dulcamara. Für Isabel Rey ist die Adina, die sie übrigens schon in der Premiere gesungen hat, heute leider keine Idealpartie mehr.
Schauspielerisch hingegen darf der Amerikaner Lawrence Brownlee als Elvino in der „Sonnambula“ noch zulegen. Den Eifersüchtigen am Ende des zweiten Bildes, nachdem er und die Dorfbewohner seine schlafwandelnde Verlobte Amina beim fremden Grafen im Zimmer erwischt haben, dürfte er mit mehr Rage spielen. Er verfügt wie Flórez über eine überaus farbenreiche Stimme und überzeugte vor allem mit seinem edlen Timbre. Sein perfektes Legato konnte er bei Bellinis weitgespannten Phrasen wunderbar zum Einsatz bringen. Mit dem Elvino beweist Brownlee, dass er nicht nur mühelos Spitzentöne zu erklimmen weiss und stupende Koloraturketten zaubern kann, sondern eine seiner wesentlichen Stärken im lyrischen Bereich liegt.
Obwohl an den großen Häusern von der New Yorker Met bis zur Londoner Covent Garden längst zu Hause, ist Brownlee aber nicht der Star in dieser Produktion, sondern fügt sich harmonisch in das mehrheitlich überzeugende Ensemble ein. Die Inszenierung von Giorgio Barberio Corsetti siedelt die eigentlich in den Schweizer Bergen spielende Geschichte in einem Bühnenraum mit Möbeln aller Größe an: von der Puppenstube bis zur Übergrösse. Assoziationen von nur scheinbarer Zugehörigkeit Aminas zur Dorfbevölkerung und von Bedrohung sollen damit transportiert werden.
Eine gute Idee, die dem Zuschauer nicht allzu viel Analysieren abfordert, so dass er sich auf das Wesentliche bei Bellini konzentrieren kann: die Musik. Beim Wiener Thomas Rösner lag die musikalische Leitung des St. Galler Sinfonieorchesters in besten Händen. Wer die Produktion nochmals mit Lawrence Brownlee erleben will, hat dazu im Dezember noch zweimal die Gelegenheit.
Am schwersten von den drei hat es der Sizilianer Antonino Siragusa als Arnold Melcthal in Rossinis „Guillaume Tell“. In der Zürcher Neuinszenierung gibt er sein Rollendebüt (wir berichteten). Wenn seine Stimme auch attackierender klingt als jene von Flórez oder Brownlee, ändert dies nichts daran, dass er mit den seinen beiden Kollegen zu den besten Belcanto-Tenören zurzeit zählt. Virtuos und stilsicher beherrscht er seine Stimme bis zu den Spitzentönen, was er im vierten Akt des Tells in seiner großen Szene auch in einer Repertoireaufführung bewies. Seine Sicherheit im lyrischen Bereich zeigte er im Duett mit Eva Mei im zweiten Akt.
Welchem der drei man den Lorbeer reicht - mag Geschmackssache. Schön ist jedenfalls, dass die Opernwelt zurzeit über drei Tenöre dieses Kalibers verfügt.