Kinderschändung am Königssee
REST DER WELT / MÜNCHEN / RUSALKA
25/10/10 Rusalka-Fans mussten sich am vergangenen Samstag entscheiden, ob sie die Reise nach Wien in die Volksoper oder ins nähere München antreten wollte. München war auf jeden Fall eine geistig fordernde Wahl. Gemischte Reaktionen auf Martin Kušejs „Rusalka“-Regie im Münchner Nationaltheater am Samstagabend, einhelliger Jubel für die musikalische Seite.Von Oliver Schneider
Rusalka-Fans mussten sich am Samstag (23.10.) entscheiden, ob sie die Reise nach Wien in die Volksoper oder nach München ins Nationaltheater antreten wollte. München war auf jeden Fall eine geistig fordernde Wahl. Während Matthias Hartmann in Zürich Ende Mai und das Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito 2008 bei den Salzburger Festspielen die Sehnsucht der Wassernixe nach dem Menschsein auf die symbolische Ebene verschoben, die werkimmanente Dichotomie Natur versus Kunst (bzw. das Spiel mit Gut und Böse) unangetastet gelassen hatten, ist Martin Kušej radikaler vorgegangen.
Verortet hat er den Abend am idyllischen Königssee, wo der Wassermann im Keller seines Hauses seine Kinder missbraucht, während seine Frau Ježibaba ihre Augen und Ohren vor den Untaten schließt und ihre Mitschuld in Alkohol ertränkt (Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Heidi Hackl). Angstvoll begegnen Rusalka und ihre Schwestern dem ach so spießig wirkenden Vater, der am Ende des zweiten Akts auch seine beschützende Seite herauskehren kann, um seine Tochter aus dem Schloss des Prinzen zurückzuholen. Ein Ort, an dem Rusalka, zur Stummheit verdammt, Zeugin wird, wie „ihr“ Prinz die fremde Fürstin liebt. Verhöhnt wird sie dafür auch: von Damen und Herren in Brautkleidern, die mit toten schon ausgenommenen Rehen tanzen und wie Tiere schließlich das rohe Wildfleisch „fressen“. Die Hochzeitsgäste zum großen Teil in bayerischen Trachten gekleidet tun es ihnen gleich.
Nach solchen Erlebnissen muss ein Mensch traumatisiert sein. Rusalka und ihre Schwestern landen in einer Nervenheilanstalt, durch die der mittlerweile verhaftete Wassermann zwecks Wiederkennung für Beweiszwecke gefesselt geführt wird. Verhaftet wurden er und Ježibaba, nachdem der Wassermann den Förster in seinem Keller getötet hat und den weiblichen Küchenjungen zu seinem nächsten Opfer machen wollte. Nur am Schluss muss Kušej korrigierend nachhelfen, indem der mittlerweile ebenso wahnsinnige Prinz sich selbst das Messer ins Herz stößt, das Rusalka ihm gegeben hat. In den Königssee kann sie nicht gehen, auch nicht ins Goldfischaquarium wie am Ende des zweiten Akts. Also bleibt ihr nur der banale Abgang nach hinten.
Das Drama von Amstetten und der Fall Kampusch haben nun also auch auf der Opernbühne ihren Widerhall gefunden. Und – das muss man festhalten – ohne dass das Werk allzu stark gegen den Strich gebürstet wird. Was Kušej allerdings rigoros streicht, ist das Gute und Positive der Natur, womit er sich auch gegen Dvo?ak stellt, der für die Natur- und die Menschenwelt unterschiedliche Klangwelten geschaffen hat. Rechtfertigen lässt sich die Interpretation damit, dass ein Märchen in unserer Welt keinen Platz mehr hat, auch das Märchen von der guten Natur nicht. Doch diesbezüglich kann man kontroverser Meinung sein.
Anstelle der ursprünglich vorgesehenen Nina Stemme hat kurzfristig die Lettin Kríst?ne Opolaís die Rolle der Wassernymphe übernommen und dafür auf ihr Met-Debüt als Musette verzichtet. Die emotionale Beredtheit ist eine ihrer großen Stärken, die ihr im Lied an die „Leuchtkugel“ – den Mond kennt sie als im Keller Gefangene ja nicht – zugute kommt. Sachlich und schlicht kommt ihr Vortrag daher, berührend sind ihre Piani, und von ihren darstellerischen Möglichkeiten her ist sie für diese Neuinszenierung eine Idealbesetzung. Einziges Manko ist, dass ihre Stimme für das große Münchner Haus (noch) ein wenig zu klein ist. Möge sie also noch weiter in diese Partie an von den Raumdimensionen kleineren Häusern hereinwachsen, damit man noch viel und lange von Kríst?ne Opolaís hören wird. Unter dem gleichen Defizit wie seine Tochter leidet auch der Wassermann alias Günther Groissböck, der aber dafür mit Kantabilität und breit ausschwingenden Legatobögen punktet. Klaus Florian Vogt verleiht dem charakterschwachen Prinzen seinen glockenhellen, silbernen Tenor. In dieser Partie macht sich allerdings seine Farbenarmut schmerzlich bemerkbar. Mit lodernder Stimmglut gestaltet Nadia Krasteva die fremde Fürstin, die verzweifelt mitansehen muss, wie der von ihr Verführte dem Irrsinn verfällt. Janina Baechle schließlich ist eine überzeugende Ježibaba.
Tomáš Hanus führt das einmal mehr bestens disponierte Bayerische Staatsorchester kontrolliert und kompakt durch Dvo?áks vorletzte Oper, in der die neudeutsche Ästhetik in den böhmischen Volkston übersetzt ist. Am Premierenabend gab es allerdings noch kleine Unstimmigkeiten zwischen dem Dirigenten und den Sängern. Dank Sören Eckhoff als neuem Chordirektor tragen die Damen und Herren des Chors ihren Anteil zum abgerundeten Gesamteindruck bei.