In der Bibliothek durch die Geschichte
ZÜRICH / BORIS GODUNOW
29/09/20 Gekürzte Aufführungen, damit man pausenlos spielen kann, oder Kurzopern. Saisonabsagen bis ins nächste Jahr im schlechtesten Fall. So sieht der Opernhausalltag während der weltweiten Pandemie aus. Andreas Homoki und sein Team am Opernhaus Zürich wollen den ursprünglich geplanten Saisonspielplan mit ein paar Retuschen beibehalten.
Von Oliver Schneider
Während Salzburg und Hamburg ihre Boris Godunow-Produktionen verschieben, zeigt man in Zürich, dass große Choropern auch in der Pandemie möglich sind. Umsetzen lässt sich der Plan freilich nur dank eines technischen Kniffs: Orchester und Chor musizieren und singen vorderhand bis Ende Oktober im rund einen Kilometer entfernten Probesaal, von wo der Klang via Glasfaserkabel ins Opernhaus übertragen wird. Dort agieren nur die Sängerinnen und Sänger mit ein paar Statisten auf der Bühne. Der Tonmeister balanciert den Klang von Chor und Orchester aus, der via Lautsprecher ins Haus übertragen wird. Orientiert hat man sich bei dieser Lösung an dem System der Bregenzer Seebühne.
Puristen mögen die Nase rümpfen, dass auch die beste technische Lösung das Live-Erlebnis nicht ersetzen könne. Doch will man bis zum Ende der Pandemie nur noch Mozart, Rossini und Barockopern sehen? Sehr viel mehr wäre im kleinen Opernhaus Zürich nicht möglich.
Der Klang überzeugt. Jede Aufführung beginnt mit einem kurzen Video, in der neben den Hygieneregeln die Zürcher Lösung vorgestellt werden. Dann folgt der Blick live in den Probesaal mit dem auftretenden Dirigenten. Ist man im Opernhaus Zürich im Normalfall an einen trockenen Klang gewöhnt, wird man positiv überrascht, wie warm die Stimmen vom Orchester umwoben werden. Der Technik sei Dank.
Schwieriger gestaltet sich diese Lösung in den großen Chorpassagen. Modest Mussorgskis Boris Godunow zeigt in weiten Zügen das Schicksal des russischen Volkes unter seinen despotischen Herrschern. Regisseur Barrie Kosky hat sein ursprüngliches Regiekonzept nochmals zugespitzt und Corona-tauglich gemacht, indem das Volk nur als innere Stimme der Protagonisten auftritt. Aber gerade im recht statisch wirkenden Schlussbild im Wald von Kromy wünscht man sich die geballte Stimmkraft eines großen Chors auf der Bühne. Das soll aber die Leistung der Chöre (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) nicht mindern. Diese trumpfen mit großem, mächtig eindringlichem Gesang aus dem Probesaal auf.
Gespielt wird in Zürich die Urfassung von 1869 mit ihrer ungeglätteten Instrumentierung, ergänzt um den Polen-Akt und das schon erwähnte Kromy-Bild von 1872. In einer Bibliothek taucht der Gottesnarr (Spencer Lang) fasziniert in die Geschichte grausamer, aber auch einsamer Herrscher über das russische Volk ein. Während sich zunächst in seiner Fantasie die Buchdeckel öffnen, verlebendigen sich die Protagonisten rasch und treten episodenhaft in der Fantasie des Gottesnarrs auf. Das russische Volk und die Damen am Hof der polnischen Prinzessin Marina Mnischek (leidenschaftlich mit aufblühendem Timbre Oksana Volkova) sind teilweise mit Statisten angedeutet.
Boris Godunow ist schon bei der Krönung zum erzwungenen Jubel des Volkes ein gebrochener Mann, den Michael Volle bei seinem Rollendebüt mit robustem und sattem Bassbariton mit Leib und Seele ausfüllt. Kalte Schauer laufen einem über den Rücken, wenn der wissenschaftlich akribisch in der Geschichte forschende Mönch Pimen den halb dem Wahnsinn verfallenen Zaren im Kreml an den ermordeten Zarewitsch Dimitri erinnert, an dessen Stelle Boris noch auf dem Thron sitzt. Brindley Sherratt weiß die langen Reden Pimens mit Spannung dramatisch zu strukturieren. John Daszak als Fürst Schuiski könnte nicht aalglatter und hinterlistiger sein Ränkespiel um die Macht treiben. Genau wie der fanatische Jesuit Rangoni am polnischen Hof (Johannes Martin Kränzle), der Marina und den falschen Dimitri, den zukünftige Zaren, zu Spielbällen in der angestrebten Katholisierung Russlands macht.
Während der Polen-Akt in einem mit goldenen Wänden und Stühlen den Reichtum am Hofe Marinas andeutenden Raum spielt (Bühnenbild: Rufus Didwiszus, Kostüme: Klaus Bruns), liegen in den Schlussakten im Kremls und im Wald bei Kromy noch die letzten Bücher auf dem Boden verstreut, die der Gottesnarr eilig zusammenklaubt und unter der riesigen Totenglocke zum Verschwinden bringt. Die Geschichte hat er mittlerweile studiert, doch muss er einsehen, dass sie sich immer wieder mit anderen Protagonisten wiederholt.
Kosky und seinem Regieteam ist trotz der Beschränkungen eine Umsetzung gelungen, die das Episodenhafte des Werks stimmig und aus einem Guss wiedergibt. Und Kirill Karabits liefert mit den unsichtbar auf der Stuhlkante spielenden Musikerinnen und Musikern der Philharmonia Zürich intime und großflächige Stimmungsbilder, die ob ihrer Emotionalität vergessen lassen, dass im verwaisten Graben nur ein paar Lautsprecher stehen.