Wo der Wahn Sinn macht
AMSTERDAM / HOLLAND FESTIVAL / STOCKHAUSEN
04/06/19 Das Ganze dauert fast eine Stunde. Heerscharen von Musikern wandern, schleichen oder rennen durch den riesigen Gasometer in der Amsterdamer Westergasfabriek, manche spielen Trompete, manche Posaune. Die Trompeter sind mehrmals am Ende, unterliegen den kämpferischen Posaunen. Und doch berappeln sie sich wieder, klar, denn Michael siegt ja schlussendlich immer und überall über Luzifer.
Von Jörn Florian Fuchs
Was für die aus aller Welt zum Holland Festival angereiste Stockhausen-Fangemeinde so klar wie Michaels strahlender Trompetenjubel ist, erschließt sich Uneingeweihten nicht immer gleich. Doch zum Finale des dreitägigen Marathons mit rund 15 Stunden Musik aus dem doppelt so langen „Licht“-Zyklus, spürt man umfassende Überwältigung beim Publikum, beim musikalischen master mind, Stockhausens Witwe Kathinka Pasveer, und bei vielen der über sechshundert Mitwirkenden. Regisseur Pierre Audi und sein kongenialer Dramaturg Klaus Bertisch haben das Kunststück, nein, Wunder vollbracht, den ausufernden Klang- und Geisteskosmos Stockhausens erlebbar zu machen, mal konkret inszeniert, mal als reine Konzertinstallation mit Lichteffekten, mal als Zwitter aus beidem.
Über ein Vierteljahrhundert schrieb der 2007 verstorbene Komponist Karlheinz Stockhausen an seinem monumentalen Opernzyklus „Licht – die sieben Tage der Woche“. Jeder Wochentag hat bei Stockhausen eine besondere Bedeutung, ein Symbol, eine Farbe. Hinzu kommen drei Hauptfiguren: Michael, Eva und Luzifer. „Licht“ verbindet Biographisches mit Esoterischem, Kammermusikalisches mit aufwändiger Elektronik. Noch nie wurde die Heptalogie komplett an einem Ort aufgeführt. Am Wochenende stemmte das Holland Festival in Kooperation mit dem Königlichen Konservatorium in Den Haag und der Niederländischen Nationaloper den dreitägigen Marathon Aus Licht, mit wesentlichen Stücken aus dem Gesamtzyklus. Er wird bis Mitte Juni noch zweimal wiederholt.
Urs Schönebohm hat für den Gasometer eine ausgeklügelte, in jedem Moment brillante Lichtarchitektur entworfen. Zentrales Element sind viele, teils geschwungene Neonstreben. Üppige Lautsprecherbatterien sorgen für perfekten Raumklang. Es wird vor allem auf großen Stahlgerüsten gespielt, gesungen, auch getanzt. Ein Teil der Musizierenden wurde eigens zwei Jahre lang im Rahmen eines Masterstudiengangs für dieses Projekt ausgebildet, fast durchwegs herrscht höchste Qualität. Stockhausens penible szenische Vorgaben befolgen Pierre Audi und sein Team immer dann exakt, wenn es musikalisch wirklich Sinn macht, erst danach kommt das Spiel mit den teilweise sehr enigmatischen Inhalten.
Die Hauptfiguren der Heptalogie sind Michael, Eva und Luzifer, die als Sänger, Musiker und Tänzer auftauchen, von ferne an die biblischen Figuren erinnern, aber auch Stockhausens Kindheit und Jugend sowie seine esoterische Lesebiographie spiegeln. Über oder auch hinter allem steht jedoch eine zutiefst menschliche, verbindende Grundüberzeugung: die Idee, dass alle Fragmente letztlich Teil einer großen Einheit sind. Daher gewinnt Stockhausen sein musikalisches Material auch aus einer einzigen Grundformel, die sich dehnt, streckt, mäandert.
Oft gehen Pathos und Humor Hand in Hand, wenn etwa ein „Welt-Parlament“ tagt, die Mitglieder singen allesamt über Liebe (wie anfangs erklärt wird), jedoch in diversen Fantasiesprachen. Irgendwann unterbricht der Hausmeister und schimpft, jemand habe falsch geparkt. Es ist der Präsident!
Manche Szenen sind sehr musiktheatral und narrativ angelegt, andere wirken wie nicht fertig komponiert. Audi stellt auch das heraus. Am spektakulärsten auf dem Papier wirkt das „Helikopter-Streichquartett“, vier Musiker – in Amsterdam das komplett weibliche Pelargos-Quartet – spielen in Hubschraubern um die Wette mit den Rotorblättern. Klingen tut das leider äußerst dürftig, banal und monoton. Wobei der Komponist eigentlich gar keine Fluggeräte wollte, die Musiker sollten vielmehr auf vier Planeten musizieren, was leider damals wie heute aus organisatorischen Gründen scheiterte...
Der ehrliche, unverstellte Zugang, die fulminante musikalische Umsetzung, der Spirit des Teams, all das macht die Amsterdamer Aufführung zu einem echten Gesamtkunstwerk ohne Wenn und Aber, dafür mit allumfassendem Amen.