Korinth im Blutrausch
REST DER WELT / MÜNCHEN / MEDEA IN CORINTO
14/06/10 Ivor Bolton ist für die Opern-Rarität „Medea in Corinto“ von Giovanni Simone Mayr in die Bayerische Staatsoper zurückgekehrt. Hans Neuenfels hat das Werk inszeniert.Von Oliver Schneider
Der neuen quellenkritischen Ausgabe sei Dank, dass Giovanni Simone Mayrs selten gezeigte „Medea in Corinto“ in der sich dem Ende zuneigenden Saison gleich zweimal in zumindest interessanten Deutungen zu sehen ist. Den Anfang machte im vergangenen Herbst das Schweizer Stadttheater St. Gallen, die Bayerische Staatsoper doppelte jetzt nach. Während David Alden in der Ostschweiz durch seine grelle Persiflage auf das Operettenhafte in der Musik und auf die Entstehungszeit des Werks kurz vor dem Wiener Kongress 1815 Bezug nahm, interessiert sich Hans Neuenfels an der Isar in erster Linie für die latente Angst der Menschen in Korinth.
Korinth, das ist in Anna Viebrocks Bühnenbild eine Mischung aus antikem Griechenland, Klassizismus und dem Heute. Hier herrscht Angst, und Angst führt zu Ausgrenzung von Fremdem und Gewaltbereitschaft. Ihre Gewaltbereitschaft tragen die Korinther permanent zur Schau, denn die Maschinenpistole oder das Messer sitzt locker. So plausibel die Deutung sein mag, Neuenfels treibt sie ad Absurdum, vergehen doch kaum zehn Minuten, dass nicht mindestens eine Person grundlos erschossen, erstochen oder erdrosselt wird. Seien es, die als „Neger“ stigmatisierten farbigen Sklaven, die als Musketiere kostümierten Begleiter des Königs Egeus von Athen (Kostüme: Elina Schnizler), oder der wendige, von Neuenfels eingefügte stumme Amor, der stark an Claus Guth Cherubino-Double in seiner „Nozze di Figaro“ bei den Salzburger Festspielen erinnert.
Neuenfels leitet seine Deutung daraus ab, dass Mayr und Romani ihre Oper „Medea in Corinto“ betitelt haben und eben nicht „Medea“ wie zum Beispiel Cherubini. Medeas Schicksal und der Kindesmord stellen nur eine in Korinth sich ereignende Episode dar. Dazu passt auch, dass Neuenfels auch auf eine deutliche Zeichnung der übrigen Personen verzichtet hat. Kreon wird als schwächlicher Greis der Lächerlichkeit preisgegeben, Jason wirkt wie ein sanftes Lämmchen, dem man seine Eitelkeit und Ichbezogenheit keinen Moment abnehmen würde.
Wenigstens der Gegensatz zwischen Medea und ihrer Rivalin Kreusa hat den Regisseur interessiert: Während die korinthische Königstochter ein Luxuspüppchen ist, deren weibliche Entourage sich gleich zu Beginn an dem Inhalt ihrer Schmuckschatullen ergötzt, ist Medea schon rein äusserlich in ihrem schlichten schwarzen Kleid eine Aussenseiterin. Zum Glück wird diese Rolle von Nadja Michael verkörpert, die allein durch ihre Bühnenpräsenz Persönlichkeit markiert. Sie trägt auch Gewähr dafür, dass die Wirkung des Kindesmords aus Rache an ihrer Rivalin Kreusa und an Jason nicht vollkommen verpufft, nachdem schon eine Reihe von Schüssen gefallen und viel Blut geflossen ist. Auch musikalisch gestaltet sie die Kolcherin mit grosser Expressivität und weiss das Nationaltheater mit ihren voll strömenden Phrasen in der unteren und mittleren Lage zu füllen. Heikel sind für sie die hohen Piani, ihr Vibrato Geschmackssache.
Einen auch stimmlich wunderbaren Gegensatz zu Michael bildet Elena Tsallagovas Kreusa: beweglich schlank und koloraturgewandt. Über die nötige Koloraturgeläufigkeit verfügt auch der US-Amerikaner Alek Shrader als Egeus mit seinem geschmeidigen und agilen lyrischen Tenor. Ramón Vargas als Jason kann zumindest mit seiner schmelzreichen, kernigen Stimme punkten, Alastair Miles ist ein verlässlich-sonorer Kreon. Laura Nicorescu schliesslich lässt als Medea-Dienerin Ismene aufhorchen, für deren Kostüm die Münchner Biedermeier-Schönheit Helene Sedlmayr aus der Schönheitengalerie von Ludwig I als Patin stand. Eine Reverenz an München oder einfach ein Gag? Nicht zu vergessen ist schließlich der Chor, der bei Mayr eine tragende Rolle spielt (wie immer vorbildliche Einstudierung von Andrés Máspero).
Zum Bayerischen Staatsorchester, das in dieser Produktion vom Salzburger Markus Tomasi am Konzertmeisterpult unterstützt wird, ist der Mann zurückgekehrt, der hier in der Ära von Peter Jonas vor allem mit Händel große Erfolge gefeiert hat: Ivor Bolton. Energiegeladen und mit Aplomb führt er durch die Mischung aus Wiener Klassik, Rossini und französischen Empire. Er arbeitet aber auch die solistischen Begleitungen in den Arien wunderbar heraus. Dass es ihm ausserdem nicht an Feinfühligkeit fehlt, lässt er gemeinsam mit den ambitionierten Musikern in Medeas Auftrittsarie hören, in der sie mit der Solovioline auf der Bühne dialogisiert.
Ein alles in allem interessanter Abend, der noch einmal zeigt, dass Mayrs „Medea in Corinto“ zu Unrecht so selten auf den Spielplänen zu finden ist. Denjenigen, die die aktuelle Münchner Produktion vergleichen wollen, sei der von der St. Galler Aufführung bei Oehmsclassics heraus gekommene Mitschnitt empfohlen.