Umwege zum Kreuzweg
BACHCHOR / PASSIONSKONZERT
30/03/12 Um die Johannespassion von Leonhard Lechner machen die meisten Chöre, auch wenn sie eingefuchst sind ins A-cappella-Singen, einen weiten Bogen. Enorm hoch ist der Anspruch. Und so schlicht Franz Liszts „Via crucis“ anmuten mag: Das Stück ist auch nicht zu unterschätzen.
Von Reinhard Kriechbaum
Normalerweise ist der Passionstext dem Evangelisten, Christus und zumindest einer dritten Person als Solisten übertragen, der Chor übernimmt die Rufe des Volks. Leonhard Lechners (1553-1606) Johannespassion folgt einem anderen Prinzip. Da ist der gesamte Text, also auch die Erzählpassagen des Evangelisten, in der Art der Madrigalkunst der Renaissance vierstimmig gesetzt, in enger Polyphonie.
Die Textverständlichkeit ist trotzdem in erstaunlichem Maß gegeben, denn diese Musik schwingt rhythmisch völlig frei, scheinbar gelöst von den Taktstrichen (das umzusetzen ist die Herausforderung). Da hört man von der Bassgruppe die wesentlichen Worte Jesu, die anderen Stimmengreifen die Motive auf, überhöhen den Ausdruck gleichsam. An entscheidenden Textpassagen weicht die Imitationstechnik auch der Homophonie. Das hatte im Prinzip der eine Generation ältere Palestrina vorgeprägt – in der evangelisch/deutschen Oratorienliteratur hat Lechners Johannespassion kaum Ihresgleichen.
Mit geradezu traumhafter Sicherheit steuerte der Salzburger Bachchor in diesmal elitär kleiner Besetzung (und gemischtstimmiger Aufstellung) durch das, wenn man es so sagen will, knapp 35 Minuten dauernde Monster-Madrigal: jede Phrase unmittelbar vom Wort und seiner Betonung her begriffen, firm im Wechsel von geradem und ungeradem Taxt – wobei eben Wort und Begriff „Takt“ damals noch nicht erfunden waren. Der fließende Melos und das plastische Hervortreten markanter Textfloskeln machen das Eigene dieser Musik aus – und das hat Alois Glaßner nicht zuletzt mit souveräner Schlagtechnik vermittelt. Eine Interpretation, die der Bachchor sofort auf CD einsingen könnte.
An Franz Liszts „Via Crucis“, am Donnerstag (29.3.) in der Christuskirche in der Version für ein Klavier und Chor umgesetzt, könnten sich die Geister scheiden. Expressiv übersteigerter Kitsch? Oder eben eine harmonisch und im Ausdruck wegweisende Musik, die Alexander Skrjabin vorwegnimmt und damals – 1878/79 (Wagners Parsifal war noch gar nicht geschrieben) – keine unmittelbare Nachfolge fand. Da zwirbelt im Klavier das Dies-Irae-Motiv durch bizarre harmonische Wendungen, da lassen die Männerstimmen, wenn Jesus unter der Last des Kreuzes strauchelt, ein geradezu niederschmetterndes „Jesus cadit“ hören, worauf der dreistimmige Frauenchor jeweils ein sentimentales „Mater dolorosa“ entgegen setzt. Auch textlich ein wagemutiges Konglomerat, von Pseudo-Gregorianik („Vexilla regis“) über protestantische Choral-Schlichtheit („O Haupt voll Blut und Wunden“) bis zu schmalzigem Pietismus des abschließenden „O crux, spes unica“, wo der Chor süffig die Alt-Melodie aufgreift.
Das will stilbewusst und vor allem im Ausdruck kontrolliert umgesetzt sein: Kein dickliches Vibrato erlaubt Alois Gaßner dem lupenrein intonierenden Bachchor. Die Homogenität war überhaupt keine Frage. Und aus dem Chor lösten sich die beiden Solisten (Christian Giglmayr, Roland Faust) mit intensiver, aber eben kontrollierter Emotion. Auch Eung-Gu Kim am Klavier ist sorgsam umgegangen mit der Ausdruckspalette.
Ein Passionskonzert, das den Horizont der Hörer entschieden erweitert und gezeigt hat: Es lohnt sich, mal weg zu gehen vom „Kanon“ zwischen Schütz und Bach und Umwege zum Kreuzweg zu gehen.