Die Flötentöne des Rattenfängers?
CD-KRITIK / HAMELN ANNO 1284
13/06/12 Was könnte der legendäre Rattenfänger haben hören lassen auf seinem Instrument, so dass ihm die Kinder willig gefolgt sind? Zur Klärung können Historiker, Mythenforscher und Musikologen beitragen, aber auch ein Musiker mit Erfahrung uns Sinn fürs „Exotische“ in der Uralt-Literatur.
Von Reinhard Kriechbaum
Historisch könnte hinter dem Märchen ein Stück früher „EU-Erweiterung“ stehen, nämlich die Ostkolonisation: Siedler waren gefragt in den neu erschlossenen niederdeutschen Gebieten an der Nordsee, und die neuen adeligen Territorialherren warben heftig um ihr künftiges Volk. Umsiedelungen waren ungefähr zu der Zeit im Gange, zu der die Brüder Grimm ihre Geschichte festschrieben (1284). Mag also sein, dass der „Rattenfänger“ in Wirklichkeit ein Menschenwerber war, der junge Leute zu Weggehen überredete.
Und vielleicht hat er ja wirklich „exotische“, deshalb reizvolle Melodien gespielt auf seiner Flöte. Der Zufall will es, dass es eine hübsche Lieder-Überlieferung gibt von einem gewissen Wizlaw III. von Rügen, einem slawisch-stämmigen Fürsten. Sein mutmaßlicher Musiklehrer taucht unter dem Namen „Der ungelarte“ (Ungelehrte) in einem Lied auf. War das ein direktes Vorbild für den „Rattenfänger“ im schmucken Fachwerkhaus-Städtchen? Zu schön wär’s.
Norbert Rodenkirchen, Spezialist auf alten Traversflöten, hat jahrelang einschlägig geforscht und greift jetzt im Wortsinn ins Volle, wohl wissend, dass er sich auf dem Glatteis der Hypothese befindet. Was er sicher in Händen hat: Flöten (Schwegeln) unterschiedlicher Größe mit sechs Grifflöchern, in pythagoräischer Stimmung mit reinen Quinten und Quarten – also nicht für Consorts taugliche Instrumente. Die Melodien holt er etwa aus dem Minnesang des 13. Jahrhunderts, aus den formal so vielfältigen Lai-Dichtungen (oder, wie man in mittelhochdeutsch auch schrieb: leich), Tanzstücke aus altslawischen Sammlungen – und eben das Melodienschätzchen des besagten Wizlaw von Rügen.
Solche Angebote kostet Rodenkirchen aus, in melodischer wie rhythmischer Hinsicht. Einmal entführt er uns in die geheimnisvolle Welt modaler Tonarten oder gar pentatonischer Modelle, dann geht’s wieder „fetzig“, in zugespitzt spritzigen Melodien zur Sache. Dazu immer wieder Borduntöne, rhythmische und akkordische Akzente auf Psalter und Schlaginstrumenten. Ja, wenn der Rattenfänger den unternehmungsbegierigen jungen Leuten solche Musik in Aussicht stellte, hat das vielleicht wirklich ihre Entscheidung für die Fremde begünstigt.