Sterben macht mir wenig Sorgen
CD-KRITIK / CHRISTOPH GRAUPNER
02/04/24 Christoph Graupner – den hätten, wie man in jeder Bach-Biographie lesen kann, die Leipziger Ratsherren gerne als Thomaskantor gesehen. Bach war ihnen zu altmodisch. Gescheitert ist Graupners Karrieresprung von Darmstadt nach Leipzig damals am Veto seines Landesfürsten.
Von Reinhard Kriechbaum
Der Musikfreund in der Darmstädter Residenz saß am längeren Ast, und so saß Graupner mehr als ein halbes Jahrhundert dort fest. Für Überraschungen ist die Musik von Christoph Graupner alleweil gut. Wie mag doch der Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt am Ostersonntag des Jahres 1721 die Ohren gespitzt haben in der Hofkapelle seiner Residenz, als da die Melodie Jesu meine Freude von der Empore kam, aber natürlich mit einem neuen, auf die Auferstehung gemünzten Text. Und dazu als Untermalung ein Tänzeln und Hüpfen der Streicher im Sechsachteltakt!
Christoph Graupner (1683-1760) war auch ein raffinierter Dramaturg. Die leuchtenden Oboen hat er noch schweigen lassen in diesem wirkungsvollen Eröffnungssatz der Kantate Nun ist auferstanden. Dafür melden diese sich umso effektvoller in der folgenden Sopranarie Hemmet die Tränen zu Wort, als Trio mit den einstimmig geführten Geigen. Und weil Graupner da über eine gute Weile auf den Basso continuo verzichtet, ergibt sich mit der an Koloraturen reichen Sopranstimme ein herrlich beschwingtes, von aller Erdschwere gelöstes Klangbild.
Das Orchester in der Darmstädter Fürstenresidenz war klein, der Platz auf der Kirchenempore begrenzt. So erklärt sich, dass die hier eingespielten fünf Kantaten für den Gründonnerstag, Karfreitag, Ostersonntag und zwei weitere Tage der Osterzeit mit beschränkten Mittel auskommen. Zwei Soprane und Bass, Streicher, nur am Ostersonntag zwei Oboen. In der Kantate Christ lag in Todesbanden kommt eine Flöte zu den Streichern.
Florian Heyerick hat für CPO schon so manches Graupner-Kleinod eingespielt, etwa Kantaten für obligates Fagott, Solo- und Dialog-Kantaten oder solche für das Dreikönigsfest. Auch für die vorliegenden fünf Kantaten (eine Live-Aufnahme) brachte er mit dem Kirchheimer BachConsort schön das Janusköpfige von Graupners Musik heraus. Aus Leipzig und der Thomasschule hat der junge Graupner in den Anfangsjahren des 18. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Eindrücke mitgenommen: Die Thomaskantoren Johann Schelle und Johann Kuhnau standen für „Old fashion“. Da war aber auch Georg Philipp Telemann, der an der Leipziger Oper schon zu Studienzeiten mit Opern und einem neuen Stil reüssierte.
Ein anregendes Umfeld jedenfalls auf höchstem handwerklichen Level. Der junge Graupner schrieb, dass er „weder in Kirchen- noch theatralischen Sachen sonderlich mehr zu fürchten“ habe, „sondern fest ging“ – da fühlte sich ein junger Komponist nach seiner Lehrzeit offenbar hinreichend gerüstet fürs nächste halbe Jahrhundert. 1705 ging er als Cembalist zum Hamburger Opernorchester, das von Reinhard Keiser geleitet wurde. In dieser Zeit komponierte Graupner mehrere Opern, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden. 1709 ging er dann nach Darmstadt, um zu bleiben.
Das hochbarocke Vokabular hatte Christoph Graupner jedenfalls von der Pike auf gelernt. Mit dem empfindsamen Stil war er nicht minder gut vertraut. Was diese Kantaten auszeichnet, sind die Grenzgänge zwischen den Idiomen. Arien und Ariosi ganz unterschiedlicher Diktion können nebeneinander stehen. Öfters mal werden Choralsätze von Rezitativen unterbrochen und plötzlich werden Mittelteile von chorartigen Sätzen einer Solistin anvertraut. In jeder Kantate finden sich Auffälligkeiten, die für Graupners Kreativität sprechen.
Für all das braucht es Souveränität in Technik und Stilgefühl, und beides bringt das Solistentrio Marie Luise Werneburg, Hanna Zumsande und Dominik Wörner mit. Graupner stürzt die Sänger in höchst heikle Koloraturen und manche melodische Schroffheiten – und das klingt hier alles wie selbstverständlich und so, also ob man noch viel, viel Graupner hören sollte. Es gäbe von ihm 1418 Kirchenkantaten!