Rebellion mit Charme
BEETHOVEN / 250. GEBURTSTAG / CD-KRITIK
15/12/20 Beethoven knapp über seiner Lebensmitte. Dass sein Zustand in Taubheit münden würde, war dem Komponisten klar geworden. Der 32jährige hatte das „Heiligenstädter Testament“ niedergeschrieben, aber er hatte noch lange nicht mit seinem Leben und schon gar nicht mit seiner Schaffenskraft abgeschlossen.
Von Reinhard Kriechbaum
Da war der Wille, das Ruder umzulegen. Das meint Ein neuer Weg, das Motto, unter das Andreas Steier seine Doppel-CD mit Klaviermusik eben dieser Zeit gestellt hat. Dieser neue Weg bestand zuerst einmal darin, mit den überkommenen Formen nicht zu brechen, sondern sie gleichsam neu zu formatieren. Die Kaskaden, die das Hauptthema im Eröffnungssatz der Klaviersonate Nr. 16 op. 32 Nr. 1 G-Dur bilden – sie haben die Zeitgenossen gewiss an Toccaten der Altvorderen erinnert.
Nicht nur die Klangoptionen dieser Läufe misst Andreas Staier unmittelbar an den klanglichen Maßstäben des um 1810 gebauten Fortepiano aus der Werkstatt von Matthias Müller (Wien) nach. Es ist ein Instrument mit auffallend weichem Diskant und geschmeidig amalgamierenden Bässen. Dieses Klavier verbietet jedes dynamische Zuviel, ermöglicht Andreas Staier aber Anschlagsnuancen sonder Zahl. Kann es sein, dass Beethoven damals, unter dem Damoklesschwert zunehmenden Gehörverlusts, auch von der Angst gepeinigt war, den klangtechnischen Fortschritt des Klavierbaus im Wortsinn zu überhören, dass er sich deshalb mit besonderer Vehemenz eingelassen hat auf Neuerkundungen in vielerlei Hinsicht?
Für den Interpreten jedenfalls ein dankbares, weil in den Denkansätzen vielfältigen Zugang ermöglichendes Feld. Was hat Beethoven sich vorgestellt, wenn er in der G-Dur-Sonate die Vorschrift „Adagio“ mit dem Zusatz „grazioso“ versah? Andreas Staier nimmt die Läufe mit sagenhafter Lockerheit, lässt sie wirken fast wie Diminutionen einer Melodie, wie sie die Altvorderen vielleicht noch in Pfundnoten notiert und die Verzierung dem Interpreten überlassen hätten.
Oder nehmen wir ähnliche Diskrepanzen in der Es-Dur-Sonate Nr. 18 op. 32 Nr. 3: Da überraschte Beethoven seine Zeitgenossen ja mit zwei Binnen-Tanzsätzen. Das Scherzo ist mit „Allegretto“ und dem scheinbar widersprüchlichen Zusatz „vivace“ überschrieben, das Menuetto mit „Moderato“ eingebremst und mit dem Attribut „grazioso“ zugleich wieder beschleunigt. Größte Sorgfalt verwendet Andreas Staier auf diese Abstufungen. Dabei bleibt er so gut wie immer auf der bedächtigen Seite, zugunsten einer sehr überlegten, klaren und feingliedrigen Artikulation. Folgerichtig machen den „Sturm“ der mittleren Sonate aus Opus 32, jener in d-Moll, nicht die rasanten Abschnitte im Eröffnungssatz aus, sondern die nicht selten gespenstische Ruhe zwischen den Böen.
Auf der zweiten CD schickt Andreas Staier zwei Variationenwerke nach: Sowohl die sechs Variationen F-Dur op. 34 als auch die „Eroika Variationen“ op. 35 stehen gleichsam im Kleinformat für Beethovens „neuen Weg“. Beethoven begegnet uns als ein postmoderner Ausfüller einer Form, für die seine zeitgenössischen Hörer eine klare Erwartungshaltung mitbrachten. Staier führt uns Beethovens Rebellion gegenüber diesen Hörgewohnheiten vor, aber auch hier mit Augenmaß und eigentlich immer mit viel Charme. Ein vorlautes Poltern ließe das historische Instrument auch gar nicht zu. Einnehmend ist in dieser Einspielung überhaupt, wie genau der Pianist die Möglichkeiten des Werkzeugs auszirkelt.