Kapriolen mit Augenmaß
CD-KRITIK / SYLVESTRO GANASSI
24/10/17 Ach, der Ganassi! An seinen „Opera intitulata Fontegara“ kann niemand vorüber. Es gilt nun mal als das Blockflöten-Lehrwerk schlechthin für die Diminution, das Auszieren langer Notenwerte. Aber um bei der Wahrheit zu bleiben: Die meisten Flötisten schauen dann doch, dass sie am Unvermeidlicheb mit Anstand möglichst rasch vorüber kommen.
Von Reinhard Kriechbaum
Selbst in der jüngsten Neuausgabe (2002, Edition Mardaga) heißt es im Vorwort, dass es sich bei „La Fontegara“ doch eher um eine „theoretische Beschäftigung“ handle als um die „Wirklichkeit einer musikalischen Interpretation“. Denis Raisin Dadre, dieser unaufdringliche Blockflöten-Meister und Musikologe, legt da ein entschiedenes Veto ein: „Wenn die Quellen aus dieser Zeit nicht den Vorstellungen entsprechen, die wir uns von der damaligen Ästhetik machen, halten wir sie für spekulativ, irreal und unbrauchbar!“ Und der Musiker tritt gleich mal ein Stück Wahrheitsbeweis in Sachen Aufführungs-Tauglichkeit an.
Er und die Sopranistin Clara Coutouly nehmen im Venedig Mitte des Cinquecento stark nachgefragte, heute eher weniger geläufige Madrigale her, jene von Philippe Verdelot. An dieser mithin heutzutage wenig abgegriffenen Musik wird die Probe gemacht, wie das denn nun gehen könnte mit Ganassis Anweisungen des „Tere“ oder „Lere“. Mit solchen Hinweisen für die Zunge oder Gaumen hat Ganassi, persönlicher Musiker des Dogen, als erster Artikulation und Tonbildung auf der Blockflöte zu beschreiben versucht. Und erst das „Dacha deche dichi docho duchu“ oder ähnliche Dinge, die sich in der Ausführung, wie jeder Blockflötenstudent bestätigen wird, als überaus haarig erweisen! Ganassi diminuiert in Vierer-, Fünfer-, Sechser- und gar Siebener-Proportionen. Nimmt man das beim Wort und beginnt man womöglich, die Diminutionsmodelle im Ensemble zu übereinander zu legen, dann beginnt die Cinquecento-Musik gleichsam zu swingen (so man übers pure Zählen hinauskommt).
Genau diesen Schritt schafft das Ensemble„Doulce Mémoire“. Die Sopranistin hat zwar auch manches zu meistern, aber sie wird rhythmisch eher geschont. Umso deftiger, was Denis Raisin Dadre in der geblasenen Alt- oder Tenorstimme einbringt, wie er aus den ungeradzahligen Noten-Stückelungen Funken schlägt. Eine lässige Noblesse sei das Lebensgefühl der Zeit gewesen, erläutert er im Booklet. Da wird eben nicht gezählt, sondern wie aus dem Bauch heraus diminuiert. Jedenfalls soll es nicht bemüht, gar angestrengt klingen, und das tut es auch nicht. Keine spitzen Artikulationen, sondern feine, weiche Formulierungen. Das ist gediegen, virtuos und wirkt doch absolut nicht so. Die zupfende Crew (Pascale Bouquet, Renaissancelaute, Bérengère Sardin, Harfe, Sébastien Wonner, Spinett und Clavicytherium) ist ihrerseits herausgefordert zu eigenständigen Diminutionspatterns, die doch vornehm im Hintergrund bleiben.
Gerade die Zupfbegleitung könnte ja im heutigen Hörer den Eindruck eines Basso continuo erwecken. Der war zu der Zeit freilich noch nicht erfunden. Die Selbständigkeit der Unterstimmen muss also gut heraus kommen, und nicht minder entscheidend ist, dass die gesungene Diskantstimme sich selbst als „Prima inter pares“ sieht. Kurzum: Dezenz in der Textgestaltung ist gefragt und wird eingelöst. Es ist so gewollt und eben kein gestalterisches Defizit, als das man dies auffassen könnte, wenn man Monteverdi und Vergleichbares im Ohr hat. Die Madrigale von Verdelot in der Lesart à la Ganassi sind eben etwas ganz Eigenes, wenn man es so sagen will: Kapriolen mit Augenmaß und Selbstbeschränkung, aber voller Leben. Gewiss trotzdem nicht jedermanns Sache.