Primitive, Selfies und vielleicht nette Europäer
LITERATURHAUS / LESUNG NURUDDIN FARAH
08/06/16 „If you want to be loved and praised, die young.“ Diese somalische Lebensweisheit zitiert Nuruddin Farah, der Nobelpreiskandidat und gebürtige Somali. In seinem neuen Roman „Jenes andere Leben“ tut der Halbbruder der Protagonistin genau das – er stirbt bei einem Selbstmord-Bombenattentat.
Von Christina König
Eine Familien- und Beziehungsgeschichte, eine Geschichte über soziale Verantwortung, Freiheit – und die Macht der Fotografie: Stirbt man bei einem Terroristenanschlag, wird man plötzlich und unvorhergesehen aus dem Leben gerissen, was bleibt übrig? „Unfinished business“, unerledigte Geschäfte, so meint Nuruddin Farah. Das lange, erfüllte Leben, das man verdient, wird einem gestohlen, und die Hinterbliebenen müssen mit diesem Verlust leben.
Eine solche Geschichte möchte Farah erzählen, eine Geschichte aus der Perspektive der Hinterbliebenen, derjenigen Menschen, die nach den Nachrichten eines Terroranschlags nicht einfach den Fernseher abdrehen und weiterleben können. Seine Geschichte ist die von Bella, einer Modefotografin, die sich nach dem Tod ihres Halbbruders um dessen Kinder kümmert und Machtkämpfe mit seiner Exfrau austragen muss, die ihre Familie verlassen hat und nun in einer lesbischen Beziehung lebt.
Farah, der nebenbei erwähnt, dass in seiner Familie grundsätzlich acht oder neun Sprachen gesprochen werden, schreibt auf Englisch. Mit angenehm sonorer Stimme liest er langsam aus dem Originalroman, eingewickelt in einen roten Schal – er ist wohl doch ein anderes Klima gewöhnt. Das Publikum ist bunter als sonst; gelegentlich blitzen Rastalocken durch die Zuschauerreihen. Für all die, die in Englisch nicht ganz sattelfest sind, liest Michael Kolnberger immer wieder Ausschnitte auf Deutsch. Über diese Ausschnitte wird natürlich gesprochen. Und nicht nur über diese.
Ein besonderer Fokus liegt auf den Frauen der Geschichte – nicht nur in diesem Roman, sondern in allen Romanen Farahs. Warum ist das so, fragt die Anglistikprofessorin Sabine Coelsch-Foisner, Farahs Gesprächspartnerin. Die Antwort? „Because they’re human beings!“ Die Stärke von Frauen beeindrucke ihn – sie übertreffe nur zu oft die von Männern. Dafür bekommt er gleich einmal eine Runde Applaus.
Ein weiteres wichtiges Thema des Romans ist die Fotografie. Farah erzählt, dass in den sogenannten „primitiven“ Völkern der Glaube herrscht, man verlöre seine Seele an die Kamera, wenn man fotografiert wird; die Kamera hat also Macht über die Fotografierten. In einer Gesellschaft, in der jeder Selfies macht, erscheint das gar nicht allzu weit hergeholt.
Aber nicht nur der Roman an sich ist Gesprächsthema, auch gesellschaftliche Fragen kommen auf: Was ist das schlimmste Vorurteil, mit dem man als Somali konfrontiert wird? Farah antwortet wie aus der Pistole geschossen: „That we are savages.“ Wenn die Leute dann ihn treffen, den kultivierten erfolgreichen Autor, halten sie ihn für „different“ – schmunzelnd fragt er in solchen Situationen: „How do you know?“
Zuletzt noch eine weitere Lebensweisheit, diesmal von Farah selbst: „Only if the world is kind to you, you can be kind to the world in return.“ Und er stellt die Frage, die den Zuhörern wohl länger nicht aus dem Kopf gehen wird: „Are Europeans kind?“