Hunde, Herzen, Holocaust
RAURISER LITERATURTAGE
26/03/12 Kann eine „Lebensgeschichte“ der Wahrheit eines Menschen nahe kommen? Das war die zentrale Frage der Lesungen am Freitag (23.3.) im Gasthof Grimming. Wer dort keinen Platz fand, folgte, wie seit Jahren üblich, der Life-Übertragung in den Platzwirt: Brita Steinwendtner besuchte mit allen Autorinnen und Autoren kurz die „Exilanten“ vor der Videowand, um auch ihnen einen „Live“-Blick auf die Gäste zu ermöglichen.
Von Cornelia Absmanner
Die renommierte Literaturkritikerin Sigrid Löffler schlug in ihrer Moderation elegant eine Brücke zwischen „der Ironikerin“ Sybille Lewitscharoff und „dem Pathetiker“ Patrick Roth. Die beiden verbinde die Herkunft aus Deutschland, die Auseinandersetzung mit Film, Glaubenswelten und der Arbeit am Mythos, so Löffler. Sibylle Lewitscharoff errichtet mit ihrem Roman „Blumenberg“ dem Philosoph Hans Blumenberg ein literarisches Denkmal. Der Textausschnitt, den sie vorliest, begeistert das Publikum durch Ironie und Sprachwitz.
Patrick Roths Text ist weniger leicht zugänglich. Der Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ erzählt die Geschichte von Joseph von Nazareth, dem Ziehvater Jesu, er erzählt von Josephs tiefem Glauben und seinem Ungehorsam wider Gott. Roths Sprache ist vom hohen Stil und Pathos der Bibel geprägt, er spielt mit religiösen Motiven und arbeitet mit Schnitttechniken, die aus dem Filmgenre kommen. Eine ältere Frau, die im Platzwirt neben mir sitzt, versieht seinen Text mit den Prädikaten „langatmig“ und „grausig“. „Hoffentlich wird’s nach der Pause besser“, sagt sie.
Als nächster nimmt Nicol Ljubi? am Lesetisch Platz. Der in Zagreb geborene Journalist und Autor hinterfragt in seinem zweiten Roman „Meeresstille“ die Vorstellung von nur „einer“ Wahrheit: Der Text springt zwischen der Liebesgeschichte von Robert und Ana und den Szenen in einem Gerichtssaals des Den Haager Tribunals hin und her. Robert muss erkennen, dass er sich in die Tochter eines Kriegsverbrechers verliebt hat.
Die Erzählung geht einem mit ihrer Eindringlichkeit unter die Haut, was auch mit der Intensität des Vortrags zusammenhängt. „Durch das Schreiben hat sich der Blick auf mich selbst und meine Wahrnehmung auf den Balkankrieg verändert“, sagt Ljubi? im Gespräch mit Ines Schütz. Die Literatur habe mehr Möglichkeiten mit der Wahrheit zu spielen als ein journalistischer Text: „In einer Reportage kann ich den Menschen nie so nahe kommen, weil ich ihre Gedanken und Gefühle nicht kenne.“
„Sie sind ja noch wach!“, bemerkt Nora Gomringer erstaunt und erfreut. Die ausdrucksstarke Stimmakrobatin vollbringt Außergewöhnliches mit der Sprache - und reißt trotz später Stunde noch einmal alle von ihren Stühlen: In einer wilden Mischung berührt sie in ihren Texten Hunde, Herzen, Holocaust - alles.
Auf Geschichten, die vor Witz geradezu sprühen, folgen nachdenkliche und empfindsame Texte, bei denen das Lachen im Halse stecken bleibt. Danach stolpern wir mit der Gewissheit in die kalte Frühlingsnacht: Das Wachbleiben hat sich gelohnt.
Für DrehPunktKultur berichten aus Rauris wieder Studierende von Christa Gürtler, die im Rahmen der Lehrveranstaltung "Literaturbetrieb und literarisches Leben in Österreich (Rauriser Literaturtage 2012)" am Fachbereich Germanistik an den Rauriser Literaturtagen teilnehmen.