Die wohl dosierte Grausamkeit
"Der Mann mit Ideen" heißt ein Roman von Werner Thuswaldner, der morgen, Dienstag (30.6.) im Marionettentheater präsentiert wird. Das Buch ist im Salzburger Lichtblick Buchverlag erschienen.
Die wohl dosierte Grausamkeit
Von Werner Thuswaldner
Meine Arbeitszeit war auf täglich fünf Stunden begrenzt. Ich konnte mir die Zeit einteilen, wie ich wollte. Chefdramaturg Willroider erklärte mir, was ich zu tun hatte. Er übergab mir einen Berg von Manuskripten, die an die Absender zurückzuschicken waren, jeweils mit einem Begleitbrief. Dafür existierten bestimmte Schemata, die sich bewährt hätten, wenn es mich freue und ich es mir zutraute, könne ich aber auch individuell antworten. Nie sei dafür Zeit gewesen, er müsse ja alles alleine machen, seit der zweite Mann erkrankt sei, arbeitsunfähig seit langem, ein tragischer Fall, vom Pferd gestürzt, gelähmt, nur noch fähig, mit den Augen zu blinzeln, sonst gar nichts. Das winzige Zimmer dieses Unglücksmenschen war mein Arbeitsplatz.
Willroider sprach mir den ungefähren Wortlaut eines Absagebriefs vor:
"Wir bedauern es sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr hochwertiger Text, sowohl in Bezug auf das Thema, als auch in der sprachlichen Durchgestaltung, an unserem Theater keine Verwendung finden kann. Der einzige Grund dafür ist in der Ausrichtung unseres Spielplans zu sehen, der für die kommenden Jahre längst festgelegt ist. Indem wir Ihnen für Ihre weitere literarische Tätigkeit viel Erfolg wünschen, verbleiben wir mit freundlichen Grüßen, etc., etc."
Ich fragte ihn naiv, ob ich zuvor jedes der Stücke lesen müsse. Das könne ich halten, wie ich wolle. Geprüft und abgelehnt seien sie alle schon.
Ehrlich war diese Antwort nicht, wie ich bald herausfand, denn die meisten der großen Kuverts waren ungeöffnet. Willroider las höchstens hie und da einmal ein Stück, wenn ihm der Name des Autors bekannt war. Andere schlug er in der Mitte auf, sah hinein und wandte sich angeekelt ab. Es war mein Ehrgeiz, gute Ablehnungsbriefe zu schreiben, deshalb nahm ich mir vor, die Stücke zuvor doch zu lesen. Erst später, nach einer Phase der Einübung, dachte ich, würde ich im Stande sein, gute Briefe auch ohne die vorausgegangene mühsame Lektüre der Texte zu verfassen.
Mehr als einmal kam es vor, dass den Manuskripten Ablehnungsbriefe anderer Theater beilagen. Die Autoren hatten ihr Stück schon weiß Gott wo angeboten, es zurückgeschickt bekommen und vergessen, den Absagebrief zu entfernen, bevor sie es am Josefstädtertheater einreichten. So lernte ich verschiedene Typen von Absagebriefen kennen. Echte Vorbilder waren nicht darunter, eher Gegenbilder. Aber auch sie halfen mir weiter. Der Tonfall mancher deutscher Briefe war so, dass man wie ein Befehlsempfänger beim Lesen geistig die Hacken zusammenschlug und am Schluss abtreten wollte. Der Tenor war im Allgemeinen so, dass man den Ärger über die Belästigung deutlich spürte. Weil mir klar war, dass ich mich auf der Seite der Verhinderer und Neinsager befand, jener, die Hoffnungen zerstörten, kreative Höhenflüge zum Absturz und produktive Kräfte womöglich für immer zum Versiegen brachten, nahm ich mir vor, so viel wie möglich an Beschwichtigung mitzuliefern, eher mit Samthandschuhen zu arbeiten als mit der Keule. Jeder dieser Briefe war nicht nur in einem persönlichen, sondern in einem vertraulichen Stil gehalten und voll von Verständnis. Mindestens eine Passage aus dem Text nahm ich jeweils heraus und ging im Einzelnen darauf ein, vorsichtig kritisierend und andere Möglichkeiten andeutend.
Die Folge war, dass ich viele Antworten bekam. Die meisten Absender drückten ihre Freude darüber aus, nach Jahren vergeblichen Wartens nun neuerlich Hoffnung schöpfen zu dürfen. Sie verstanden meine Absage nicht als Verdammung, sondern fühlten sich "an der Hand genommen" – so wörtlich eine Autorin aus der Steiermark -, ermutigt zu einer Überarbeitung. Offenbar schien man meinen Brief als halbe Zusage zu lesen. Manchmal wurde rundheraus der Wunsch geäußert, mich zu treffen, damit das Weitere besprochen werden könne. Als ich mehrere derartige Briefe bekam, sah ich ein, dass ich herzloser vorgehen musste. Mit der Zeit hatte ich es im Gefühl, wie die Grausamkeit zu dosieren war, um einerseits noch halbwegs als Menschenfreund zu erscheinen und andrerseits Distanz zu wahren.
Dalberg enttäuschte mich schon ein paar Tage, nachdem ich beim Josefstädtertheater angefangen hatte, als er fragte, ob in der Dramaturgie schon sein "Hochland" zur Sprache gekommen sei. Ganz ruhig erklärte ich ihm, dass ich erst dabei sei, mich einzuarbeiten und noch studieren müsse, wie die Mechanismen in der Theaterleitung funktionierten. Dalberg reagierte gekränkt, weshalb ich ihm versprach, mich für "Hochland" einzusetzen, sobald sich die erste Gelegenheit dazu böte. Im Geiste formulierte ich einen meiner Absagebriefe an Dalberg. In der weiteren Folge war er es, der mich dazu zwang, für meine Hinhalte- und Absagetätigkeit immer neue und noch raffiniertere Argumente zu erfinden.
Einfach war es ja wirklich nicht am Theater. Meine einzige Gesprächspartnerin dort war die Sekretärin, Frau Wiesmüller, die ich wegen ihrer Stärke und Wendigkeit bewunderte. Sie war wohl nur der Bezahlung nach eine Sekretärin, in Wirklichkeit war sie viel mehr. An ihr blieb der Großteil der strategischen Arbeit im Theater hängen, und dazu organisierte sie von ihrem Telefon aus noch einen Haushalt, bestehend aus einem Mann und drei halbwüchsigen Kindern, mit einer Fülle von Anweisungen.
Willroider zeigte sich nur selten im Büro, er hatte viel außer Haus zu tun. Was, wusste niemand. Willroider war immer hektisch, führte zwei, drei Telefonate und war wieder verschwunden. Er hielt es auch nicht lange bei einer Probe aus. Den Direktor sah ich erst nach zwei Wochen, als er von einer Tournee zurückkam. Für Frau Wiesmüller brachte er Blumen, stark duftende Fresien, mit. Sie sagte "charmant" und machte einen Knicks. Mir schüttelte der Direktor die Hand und klopfte mir auf die Schulter. Weil er die Pfeife nicht aus dem Mund nahm, verstand ich den Satz nicht, den er sagte. Die Tournee war eine Lesetournee gewesen. Der Direktor, der durch Jahrzehnte hindurch ein äußerst beliebter Schauspieler gewesen war, bevor man ihn zur Übernahme der Theaterleitung gedrängt hatte, war ein geschätzter Vortragender. Er las ausschließlich heitere Texte und wurde deshalb landesweit für die Personifikation des heiteren Wesens gehalten. Im Theater tappte er meist als schlecht gelaunter Mann herum. Ich wusste, dass dies nur eine Pose war, mit der er sich alle, die Fragen an ihn hatten oder sonst etwas von ihm wollten, vom Leibe hielt. Nicht nur in Österreich, auch in Deutschland wurde die Art, wie er Humor vermittelte, sehr zustimmend aufgenommen. Es waren beileibe nicht bloß die Insassen von Altersheimen, die, wenn er auf Tournee war, ungeduldig auf ihn warteten, nein, er war unter den herumreisenden Humoristen die große Ausnahme, denn keiner außer ihm konnte nicht bloß intime Theater, sondern sogar Freiluftarenen mit seinen heiteren Lesungen füllen. Er war zugleich Vizedirektor des Wiener Eislaufvereins. Die Wiener standen gerne am Maschenzaun des Eislaufsplatzes beim Hotel Intercontinental und sahen ihm zu, wie er ruhig mit verschränkten Armen seine Runden drehte.