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LESEPROBE / FELLINGER
17/05/21 Wozu anderen einen Brief schreiben? Leopold Fellinger habe sich vor einiger Zeit entschlossen, heißt es beim Otto Müller Verlag, „von seinen Reisen Briefe an sich selbst zu schreiben“. Fellinger will darüber staunen, „welches Ich diese Briefe damals verfasst hat“. Das ist nun nachzlesen im Band Ich ist der Andere. – Hier eine Leserprobe.
Von Leopold Fellinger
Geschätzter Freund!
In einem unserer letzten Briefwechsel blieb eine Frage unbeantwortet: Warum kehrt der Mensch immer wieder an manche Orte zurück? Deine Frage war eine Anspielung an die von mir immer wieder gepriesene Pflicht zur Neugier, zur Eroberung neuer Orte und Stätten, zur Erweiterung von Wissen und Bewusstheit. Ja, daran glaube ich. Es gibt, abgesehen von der Liebe, keine größere Inspirationsquelle. Neues entsteht aus Neuem, oder mindestens aus neu Entdecktem. In diesem Sinne muss man auch der Wiederkehr an so manchen magisch anziehenden oder noch nicht vollständig entdeckten Ort eine Bedeutung beimessen.
Dennoch, und da gebe ich Dir uneingeschränkt recht, ist dies in meinem Leben ein nicht zu unterschätzendes Paradoxon. Ich schreibe diesen Brief in einem Liegestuhl, vor mir das Tyrrhenische Meer, hinter mir die Festung des Fischerhafens Castiglione della Pescaia. Ein Ort, den ich schon unzählige Male besucht habe, in jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Kein Zentimeter des sandigen Ufers, das ich nicht schon mit meinen Füßen durchmessen habe. Ein Platz der ständigen Wiederkehr, wie ein Zuhause. Ein Heimkommen in die Fremde, die mit jedem Besuch das Fremde mehr und mehr verliert.
Viele Umstände sind dabei hilfreich, ebenso wie die Menschen. Da wäre zum Beispiel Maria, die ständig rauchende Besitzerin des bezauberndsten Drei-Sterne-Hotels mit dem treffenden Namen „Piccolo Hotel“, die mit unglaublicher Hingabe Tag für Tag und Abend für Abend die unglaublichsten kulinarischen Preziosen erfindet und auf den Tisch bringt. Oder die etwas ältere, aber immer noch rassige Italienerin mit dunklem Teint, Schnurrbart und kräftigen Gliedmaßen, die das Bagno Castiglione betreibt, ihr Sohn, mit dem man nicht nur um den Preis von Liege und Sonnenschirm feilschen darf, sondern auch um den perfekten Platz nahe der Wasserlinie. Und zuletzt die kleine Hafenstadt an sich, ein Juwel im November, einsam in sich gekehrt, eine Touristenhölle im August, lärmend und verschlingend.
Ja, das alles kenne ich gut, trotzdem und deswegen kehre ich immer wieder hierher zurück. Beim ersten Besuch habe ich mit meiner Liebsten auf einer Steinbank gesessen, sie war für mich lange Zeit ein Symbol unvergänglicher Liebe und ist es noch immer. Wahrscheinlich ist es nur der Wunsch nach dieser Unvergänglichkeit, der mich treibt. Ein Beweis dafür, dass manches nicht vergehen soll. Wer weiß, vielleicht ist das der Grund meiner stetigen Wiederkehr. Um das Neue im Unvergänglichen zu entdecken - ein unauflösbarer Widerspruch.
Bitte gib diesen Brief meinem Bruder zu lesen, er wird sich freuen, dass auch mir Vertrautes oder scheinbar Vertrautes in gewisser Weise gefällt. Was ihm Sicherheit gibt, verschafft auch mir Lust und Vergnügen: Der krächzende Lautsprecher im Bagno – „Margherita, erremme!!“ – oder die immer gleich aussehenden jungen braungebrannten Bademeister auf ihrem Hochsitz, mit einem ebenso jungen attraktiven Mädchen am Schoß, wichtig aufs Meer blickend, oder gar der Strandverkäufer, dessen Ruf man schon von Weitem hört: „Coco bello, Coco bello, Ananaaaaas….“, alles vertraute Klänge und oft geschaute Bilder. Ein friedlicher Ort, an dem man sich selbst näher kommen darf, wo Träumen und Sehnen erlaubt ist, ein Ort, der das Besondere des Alltäglichen preisgibt. Wenn man hinsieht.
Das Meer rauscht immer noch.
Laut und fordernd.
Es ist da. Einfach da.
So wie ich.
Ich grüße Dich aus der mir so nahen Ferne
Castiglione, im September 2011
Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages