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Die angeblich moderne Zeit...

LESEPROBE / PAULA SCHLIER / PETRAS AUFZEICHNUNGEN

10/05/19 Petras Aufzeichnungen ist ein sprachlich und inhaltlich radikales Werk über das Leben von Frauen und die politische und gesellschaftliche Zeitenwende im frühen 20. Jahrhundert. Die jungen Frauen der ersten Generation, die selbstverständlich wählen durfte - wie lebten sie? Wie verarbeiteten sie das Erlebnis des Ersten Weltkriegs? Was waren ihre Träume, ihre Enttäuschungen? – Hier eine Leseprobe.

VON PAULA SCHLIER

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Das Lazarett

Um mir das Licht der Welt, das ich erblickt habe, deutlich zu machen, wird es nicht nötig sein, daß ich auf die Zeit zurückgreife, da ich Säugling war. Sondern ich werde dort beginnen, wo ich zu schreien und mich zu wehren anfing. Und das war 1916, als ich mit siebzehn Jahren Kriegspflegerin wurde.
Das Lazarett, in dem ich pflegte, von den Soldaten „der Zirkus“ genannt, nahm Tausende von Verwundeten auf, die zu Anfang des Krieges auf Strohlagern, später auf eisernen Bettgestellen in langen Viererreihen untergebracht wurden. Im letzten Leichtverwundetensaal spielte jeden Nachmittag Militärmusik, bei Siegen mit verstärktem Orchester. Im großen Saal weinten die Schwerkranken vor Nervosität und baten um Watte zur Verstopfung ihrer Ohren. Dieser große Saal hatte zehn offene Türen, durch welche die Besucher hereinströmten: Mütterchen aus Ostpreußen; Damen vom Ausschuß des Roten Kreuzes; Ärzte, Offiziere; Rekonvaleszenten an Krücken; Schwestern mit Uringläsern, Milchbrei, Schokolade, Blumen. Eine Dame verteilte Gesellschaftsspiele, eine andere Rosen. Sie wurde dafür geliebt von den Verwundeten. In einem Bett lag ein bleicher Jüngling an Genickstarre, steif wie ein Toter, die Dame warf ihm mit reizendem Lächeln eine Blume zu. Er ergriff die Blume, richtete sich auf – zum ersten Mal, daß er es konnte – und warf die Rose mit den Dornen der Dame mitten ins Gesicht.

In der ersten Zeit wurden wir freiwilligen Schwestern auf allen Stationen zur Hilfe herangezogen. Ich hatte in der Inneren Station die Fieberkurven an der Tafel über dem Bett zu zeichnen und kalte Wickel um heiße Leiber zu winden, in der Äußeren auf die plötzlich eintretenden, gefährlichen Blutungen der Wunden zu achten und die Streckverbände gebrochener Glieder mit Gewichten zu beschweren. Im chemischen Laboratorium durften wir das Sputum der Lungenkranken unter dem Mikroskop betrachten. In der Nervenstation reichten wir den Erbsenbrei durch ein Loch in die Einzelzellen, in welchen die an Zuckungen und Tobsuchtsanfällen leidenden Soldaten untergebracht waren. Im Verbandsaal hielten wir die Eiterschale unter fließende Wunden und im Operationssaal mußten wir uns an den Anblick eines auf dem weißen Tisch allein liegenden blutigen Fußes gewöhnen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Ohnmacht, im doppelten Sinn des Wortes, das mich bei der ersten Operation, der ich zusah, befiel. Ein Mann, der nicht narkotisiert war, lag auf der Bahre, ein Leintuch war über ihn gebreitet, nur ein Stück seines Leibes blieb unbedeckt. Ein einziger Messerstrich ließ einen roten Schnitt aufklaffen und aus dem Inneren quollen die Gedärme heraus. Der Mann gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, hob und senkte sich. Die Ärzte begannen die Gedärme in den Leib zurückzustopfen, aber sie quollen wieder hervor. Das war nicht vorgesehen: Man drückte sie hinein, aber sie sprangen immer wieder hervor. Dies dauerte drei Stunden lang. Der Mann unter dem Leintuch gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, wand sich, bäumte sich. Am Ende kam ein Oberarzt mit dem Auto angefahren, ein berühmter Spezialist für solche Operationen, und nähte den Leib rasch zu. – Es war am gleichen ersten Tag, als man mir im Verbandsaal einen nackten, zitternden Menschen übergab, dem die Schußwunde, faustgroß, durch den ganzen Körper, zum Rücken hinein und zur Brust heraus ging. Ich mußte ihm die Öffnung mit Verbandgaze zustopfen, die an einer Pinzette aufgespießt war, kein Ende nahm und doch nicht zureichte, weil die Wunde zu groß und nicht auszufüllen war.

Mit freundlicher Genehmigung des Otto Müller Verlages

Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen oder Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Otto Müller, Salzburg, Wien 2018. 190 Seiten, 22 Euro - www.omvs.at
Am Montag (13.5.) um 19 Uhr findet im Literaturarchiv Salzburg eine Präsentation dieser Neuauflage mit den Herausgeberinnen Annette Steinsiek und Ursula Schneider statt - www.uni-salzburg.at

 

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