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Dreizehn Schritte Zeit

LESEPROBE / RAURISER LITERATURTAGE / TODISCO / DAS EIDECHSENKIND

29/03/19 Das Eidechsenkind ist in Italien daheim und im Gastland zu Hause. Hier muss es sich verstecken, dort rennt der Junge wie alle Kinder dem Ball hinterher. Bis er sich auf heimlichen Streifzügen hinauswagt in anderr Menschen Wohnungen. Vincenzo Todisco erzählt von einem klandestinen Schicksal, von kindlichem Einfallsreichtum und heimlicher Freundschaft. – Hier eine Leseprobe.

VON VINCENZO TODISCO

Das Kind macht zuerst das linke und dann das rechte Auge auf. Es hat den Kopf an zwei Orten. Einmal in Ripa, wo ihm nichts geschehen kann, und einmal in der Wohnung, wo es die Schritte zählen muss. Vier Schritte sind es bis zum Tisch, zwei bis unter die Kredenz, ein langer Schritt bis zur Spüle, und dann sind es zehn kurze Schritte hinaus aus der Küche bis in die Mitte des langen Korridors. Am weitesten ist es bis zur Stanza in fondo, dem hintersten Zimmer. Genau dreiundzwanzig Schritte müssen das Kind im äußersten Notfall bis zum Schrank dort bringen.
Auch im Freien will das Kind die Schritte zählen. Dort schießt ihm aber das helle Licht ins Gesicht und macht es blind.
Nachts kommen die Wölfe. Dann müssen die Schritte leise sein. Die Wölfe finden das Kind fast immer. Sie beugen sich über das Bett und fletschen die Zähne. Das Kind ruft leise nach Nonna Assunta, die weit weg, in Ripa, wohnt. Das Kind hört Nonna Assuntas Stimme: »Sprich mit mir«, flüstert sie, »sprich mit mir und mach deine Fäuste, dann tun dir die Wölfe nichts.«

Es läutet an der Tür. Es ist bestimmt Carlos’ Mutter, die wieder einmal Mehl braucht und immer in Eile ist, weil sie Carlos nicht zu lange allein lassen will. Die Mutter geht öffnen. Sie kommt in die Küche, um das Mehl aus der Kredenz zu holen, und geht wieder zur Tür. Das Kind hört, wie die beiden Frauen miteinander reden. »Er ist zu dick, mein Carlos, viel zu dick«, weint die Frau. Die Mutter sagt, sie solle zum Arzt gehen, und reicht ihr das Mehl. Carlos’ Mutter erklärt ihr, sie sei sogar mit ihm im Spital gewesen. Niemand könne ihr helfen. Das geht eine Weile so hin und her, bis Carlos’ Mutter sagt, sie müsse jetzt gehen, und die Mutter anfügt, sie habe auch noch so viel zu tun. Das Kind horcht bis zum letzten Wort. Es kennt die Anweisungen. Sobald die Mutter den Besuch eintreten lässt, muss es unter die Kredenz kriechen. Steht es im Korridor, hat es dreizehn Schritte Zeit, um sich im Schrank in der Stanza in fondo zu verstecken.

Mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlags

Vincenzo Todisco: Das Eidechsenkind. Roman. Rotpunktverlag, Zürich 2018. 220 Seiten, 24,80 Euro. Auch als E-Book erhältlich - www.rotpunktverlag.ch
Vincenzo Todisco liest morgen Samstag (30.3.) im Rahmen der Rauriser Literaturtage im Gasthof Grimming aus seinem Roman. Weiters lesen Susanne Fritz und Karl-Markus Gauß - www.rauriser-literaturtage.at
Foto: Rotpunktverlag / Momir Cavic

 

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