asdf
 

Literaturkritik im Überlebenskampf

LESEPROBE / KLAUS SIBLEWSKI / DER GELEGENHEITSKRITIKER

14/02/18 Was Sie schon immer über Literatur wissen wollten und nicht zu fragen wagten. K. ist ein Gelegenheitskritiker, einer aus der zweiten Reihe, der aber für eine Reihe namhafter Rundfunkanstalten über wichtige Bücher schreibt. Die Gespräche, die er mit Redakteuren über Neuerscheinungen führt, sind unverblümt und witzig. Gleichzeitig beschäftigen K. zunehmend Überlebensfragen und auch der Kampf um die Sendeplätze für Buchkritiken wird härter... – Hier eine Leseprobe.

Von Klaus Siblewski

Grass zieht immer, Walser auch!

Er hatte vier Tage intensiv gelesen. Ein leichtes Gefühl von Benommenheit stellte sich ein, wie immer, wenn er seine Zeit mit Lesen verbrachte. Die Welt drehte sich in einem anderen Takt als er. Das störte ihn nicht weiter, obwohl er sich sagte, es bekäme ihm wahrscheinlich gut, wenn er weniger häufig in die Buchstabenwelten abtauchen und versinken würde.

Aber das war ein anderes Problem. In diesen vier Tagen konsumierte er über die üblichen Mahlzeiten hinaus zwölf Kannen Tee, fünf Packungen Kekse, vier Flaschen Rotwein (0,7, er hielt Maß), zwei Ibuprofen (halfen grundsätzlich und zuverlässig) und schrieb Notizen, die fast so umfangreich wie das Buch von Bohrer waren, machte vier Spaziergänge durch das neue Quartier (es hieß Südvorstadt) und war sich sicher: Dieses Buch wollte er besprechen. Genauer: Besprechen wollte er es auf jeden Fall, das stand von den ersten Seiten an fest. Aber das Buch hatte ihn auf eine gute Weise beeindruckt, es war dicht, intensiv, überraschend. Jetzt aber kam erst die wichtigste Phase seiner Arbeit. Er musste jemanden finden, der auch an einer Besprechung dieses Buchs durch ihn interessiert war. Ohne Rezension war er kein Kritiker (und kam vor allem nicht an Geld, das hieß, an eine Wohnung, Tee, Kekse, Rotwein und Ibuprofen heran, das waren seine Betriebskosten, wenn er nur an die Extras dachte). In den letzten Jahren hatte er sich einen guten Arbeitskontakt zu U., dem Literaturredakteur einer Sendeanstalt im Norden der Bundesrepublik, aufgebaut. Nur für ihn schrieb er mittlerweile noch Kritiken. (Vor Jahren hatte er noch für Zeitungen geschrieben. Dort mussten die Redakteure aber mittlerweile darum kämpfen, sich selber mit einer ausreichenden Anzahl von Aufträgen zu versorgen, U. dagegen sendete kontinuierlich seine Besprechungen.) Ihn würde er anrufen und ihm die Besprechung von Bohrers Buch nahelegen. U. diskutierte gerne über seine Vorschläge, manchmal stritten sie, aber in den meisten Fällen konnte er U. dazu bewegen, ihn mit dem Besprechen des jeweils vorgeschlagenen Buchs zu betrauen.

Ein Problem hatte er noch zu lösen. Wie organisierte er diese Telefonate von seiner neuen Wohnung aus? Bisher war es wichtig für ihn gewesen, beim Sprechen eine gute Sitzposition zu haben. In Stuttgart hatte er sich immer frontal zu seinem Schreibtisch gesetzt und ab dem Zeitpunkt, an dem er die Telefonnummer von U. gewählt hatte, aus dem Fenster geschaut. Das machte er jetzt auch. Er setzte sich frontal an seinen Schreibtisch, schaute aus dem Fenster und fixierte einen Schornstein auf dem Dach schräg gegenüber. Er tastete mit seinen Blicken den Schornstein ab, fand Halt in den frisch gemörtelten Fugen. Aus dieser Position heraus wollte er es versuchen.

Er griff nach seinem Handy, wählte U.s Nummer, hörte es klingeln (war das Klingelzeichen in Leipzig lauter als in Stuttgart?) – plötzlich sagte U. Ja.

Nazikritisches Getobe (Bohrer)

K: Er wolle das neue Buch von Karl Heinz Bohrer besprechen; der Titel sei Granatsplitter.

U: Bohrer? – sei hier im Sender kein Unbekannter. Die Kollegen vom Sachbuch würden sicher Sendezeiten zum Besprechen

eines neuen Buchs von ihm bereitstellen.

K: Dieses Mal seien die Verhältnisse aber andere. Bohrer habe seine Autobiographie zu schreiben begonnen – kein

Sachbuch.

U: Autobiographien gehörten auch zum Sachbuch, von dieser Verteilung der Bücher im Sender wird er auch schon

gehört haben. Und er solle bitte keine Diskussion über die Gründe dieser Verteilung mit ihm führen wollen.

K: Nein, diese Diskussion wolle er nicht führen. Er habe sich aber auf dieses Argument vorbereitet. Ob er sein Argument

sagen dürfe.

U: Wenn es sein müsse.

K: Ja, das müsse sein. In Granatsplitter gerate Bohrer ins Erzählen. Das sei deshalb ein literarischer Text und weit entfernt von den intellektuellen Aufregungen, die er zu Papier bringe, wenn er auf ein Gedicht von Hölderlin treffe oder sich über die Romantik verbreite.

U: Jetzt diskutierten sie doch über Entscheidungen des Senders. Er selber könne sich auch überschlagen in seiner Bewunderung für Bohrers Werk, vielleicht sogar für dessen neu entdeckte Erzählkunst. Eine Autobiographie bleibe aber eine Autobiographie, und Autobiographien gehörten in welche Abteilung?

K: Aber Bohrers Buch sei eine Ausnahme. Genauer: Es sei Literatur und gehöre deswegen in eine von einem literarischen

Redakteur verantwortete Sendung.

U: Ob er Sender kenne, die Ausnahmen machten?

K: Nein! Er habe sich falsch ausgedrückt, das Wort Ausnahme solle er bitte streichen. Bohrers Buch müsse als Literatur angesehen werden. Und zwar von allem Anfang an. Und in seinem Kern. Auch das autobiographische Moment sei eine hilflose und viel zu weit von außen kommende Bezeichnung für Bohrers Arbeit. Die Abteilungszuständigkeiten seien aus seiner Sicht gar nicht berührt, so durch und durch literarisch sei das Buch.

U: Quatsch, mit Verlaub.

K: Nein, Quatsch träfe nicht, was er gerade gesagt habe. Aber falls U. sich dem Diktat des Senders beuge und nur in Abteilungszuordnungen

denken könne, wenn Autobiographisches sich auch nur zart zeige, dann biete er ihm ein anderes Argument an. Sei er bereit für dieses Argument?

U: Nein.

Mit freundlicher Genehmigung des Residenz Verlages

Klaus Siblewski: Der Gelegenheitskritiker. Residenz Verlag, Salzburg 2017. 240 Seiten, 24 Euro – www.residenzverlag.com
Bild: Inge Ofenstein/Residenz Verlag

 

DrehPunktKultur - Die Salzburger Kulturzeitung im Internet ©2014