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Mausetot und doch quicklebendig

 

BUCHBESPRECHUNG / ALLE TOT

31/10/14 Über welchen Schriftsteller, sei er noch so produktiv gewesen, könnte man sagen, dass er die Bevölkerung gleich um ein Prozent vermehrt habe? Mark Twain kam in einem Hundert-Seelen-Dorf zur Welt… Einhundertein Tote geben sich in einem gar nicht so makabren Buch ein Stelldichein.

Von Reinhard Kriechbaum

„Man stelle sich vor, die Geschichte wäre anders verlaufen und Jesse Garon, der eineiige Bruder, hätte eine Stimme gehabt wie er. Man stelle sich weiters vor, die beiden hätten gemeinsam gesungen. Eine Art männlicher Kessler-Zwillinge, nur dass die Fans noch lauter getobt hätten als bei den Kesslers. Schade, dass es nie so weit gekommen ist.“ Ja, ja, Georg Thiel hat schon recht. Aber ganz ohne war das zweite Zwillings-Ei, jenes mit Stimme, ja auch nicht. Elvis Presley ward draus.

Er, wie die anderen hundert, die in diesem viel weniger makabren als anregend-pfiffig geschriebenen Buch vorkommen, ist mausetot. „Das 20.Jahrhundert in 101 Nachrufen“ heißt es im Untertitel. Wenn man es in die Hand nimmt, erwartet daraufhin mal eigentlich etwas anderes, nämlich zeitgenössische Elogen auf die jeweils Verstorbenen. Genau das ist es aber nicht. Georg Thiel und Florian Baranyi haben sich assoziativ und mit gedanklichen Winkelzügen auf einen historischen Streifzug gemacht, wer so alles verstorben ist zwischen 1900 und 2000 (deshalb auch einhundertein Text und nicht glatte hundert Beiträge). Jahr für Jahr ein besonderer Mensch. Zelebritäten aus Kunst und Politik, Gentleman-Gauner, Edelnutten – alles querfeldein.

Aldo Moro ist, was das Todesjahr (1978) betrifft, ein Nachbar von Elvis Presley (1977) und Peggy Guggenheim (1979). Recht krasse Jahres-Kurven kommen da also zusammen: 1956 hauchte Alfred C. Kinsey sein Leben aus – jener Mann, dessen Schlafzimmer-Report im puritanisch geprägten Amerika ziemlich viel Staub aufgewirbelt hatte (und das nicht nur, weil er so staubtrocken geschrieben war). 1957 ist Rosemarie Nitribitt, ein leichtes Mädchen der Wirtschaftswundergeneration , in Frankfurt ihrem Mörder in die Hände gefallen. 1958 hat Papst Pius XII für Rumor gesorgt als Toter, weil die Balsamierung missglückt war und es im Sarginneren krachte und knallte während der Aufbahrungszeremonie. 1959: Billie Holliday, die es aus tristen Verhältnissen in Schwarzenghettos zu Leberzirrhose gebracht hat, aber – etwa an der Seite von Benny Goodman und Duke Ellington – als Jazzsängerin auch zu erheblichem Ruhm. 1960: Albert Camus, der (als Beifahrer) in einem PS-mäßig etwas überkandidelten Fahrzeug bei einem Reifenplatzer ziemlich banal ums Leben kam.

So geht das also dahin, in knappen Texten jeweils so um die drei Druckseiten herum. Es sind alles andere als devote Nachrufe, wobei Georg Thiel der entschieden pfiffigere, verquerer denkende Lebens-Rekonstrukteur ist als der eher brave Co-Autor Florian Baranyi. Wer was geschrieben hat, das kann der Leser nach ein paar Texten greifen und findet seine Annahme meist bestätigt in der Auflistung hinten im Buch. Die beiden haben sich die Texte in etwa geteilt, wobei Thiel möglicherweise die biographischen Gustostückerln herausgepickt hat.

Manche Leute sind gar nicht so prominent, aber prototypisch. Schon mal von Annie Clemmer Funk gehört? Sie gehörte der Religionsgemeinschaft der Mennoniten an. „Sie sind für eine ausgezeichnet fromme Lebensführung und ebensolche Apfelkuchen sowie Biskuits mit Mandelfüllung bekannt“, kann man darüber lesen. Der Guten half trotzdem nichts – sie sank mit der Titanic im Jahr 1912.

Georg Thiel,  Florian Baranyi: Alle tot. Das 20. Jahrhundert in 101 Nachrufen. 352 Seiten. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2014. 25.- Euro – www.pustet.at

 

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