Busenwunder mit Hirnlähmung
BUCHBESPRECHUNG / LAGGNER / FREMDLINGE
03/05/24 „Familie ist ein Scheusal, getarnt in einem Engelskostüm.“ Das ist nur eine von vielen gewagten Aussagen, die Anna Katharina Laggner in ihrem autofiktionalen Debütroman über eine Zwillingsschwangerschaft tätigt. Ein erfrischend ehrliches, unsentimentales und zum Nachdenken anregendes Protokoll einer Zeit, in der Frauenkörper stärker als sonst zum Objekt öffentlichen Interesses werden.
Von Christina König
Frauen bezeichnen ihre Schwangerschaft stolz als Wunder, nennen ihre ungeborenen Kinder Minimaus und Krümel und bekommen ihr zweites Kind im „guten Abstand“ von eineinhalb bis zwei Jahren. So viel zu den Vorstellungen, wie eine Mutter zu sein und zu fühlen hat. Anna Katharina Laggner präsentiert in „Fremdlinge“ einen radikal anderen Entwurf eines Frauen-, Mutter-, Schwangerenlebens, der aufräumt mit Klischees, romantisierten Vorstellungen und glattgerührtem Einheitsbrei.
Die Protagonistin Anna ist zum zweiten Mal schwanger – mit Zwillingen. Die Entscheidung, ob sie die Kinder bekommen sollen, fällt ihrem Partner und ihr nicht leicht: Unter den „Kunst-, Kultur- und Selbstverwirklichungsfuzzis“, zu denen sie sich zählen, wären sie dann immerhin eine ungewöhnliche, eine „richtige Familie (was auch immer das ist)“. Nach langem Abwägen entscheiden sie sich gegen den Schwangerschaftsabbruch – und segeln hinein in die Absurditäten, die ihre neue Situation mit sich bringen.
Laggner gestaltet ihren Roman als autofiktionale Protokolle, die sie während ihrer Schwangerschaft führt. Eingeteilt ist er nicht in Kapitel, sondern in Trimester, Schwangerschaftswochen und -tage: Er beginnt mit „1. Trimester, SSW 5+5“. Man fühlt sich an Schwangerschaftsapps erinnert, die einen regelmäßig darüber informieren, was im Körper gerade so vorgeht – nur dass Laggners Ton ein ganz anderer ist.
Sie zeigt uns die Kuriositäten rund ums Kinderkriegen auf: dass „Schwangerschaftswoche“ mit SS abgekürzt wird und das niemand komisch findet; dass es so etwas gibt wie das Vanishing-Twin-Syndrom; dass man im Yogaunterricht dazu aufgefordert wird, sich mit der Herzenergie des Babys zu verbinden. Gleichzeitig thematisiert sie die Übergriffigkeit, die schwangere Frauen ertragen müssen: ständige Berührungen am Bauch, die ewig gleichen Fragen wie „Wann ist es denn so weit?“, die aufgezwungenen intimen Gespräche über den geplanten Geburtsvorgang.
Der Text ist oft im Notizenformat gehalten, knapp, manchmal elliptisch, immer präzise. Laggner schreibt trocken, stellt Fragen, die sie nicht beantwortet, weil es keine Antworten gibt. Gelegentlich nutzt sie Regieanweisungen wie „Abends im Bett“, Dialoge sind dialektal angehaucht. Der Fokus ist sehr eng auf Anna gelegt, selbst die wichtigsten Nebencharaktere wie ihr Partner oder ihr Sohn bleiben blass. Es ist keine Geschichte über Männer.
Am tiefsten schürft Laggner, wenn sie die Grundannahmen hinterfragt, die das Familienleben betreffen. Habe ich wirklich einen Kinderwunsch oder doch mehr eine „Kindergewissheit“? Ist es selbstlos, Kinder zu bekommen? Warum bekommt ein Mann mit bald drei Kindern zu hören, jetzt müsse er aber Geld verdienen, während man zur Frau nur sagt, da werde sie sich aber freuen? Und warum ist eine Künstlerin mit Kindern auch heute noch quasi Surrealismus? Laggner schreibt über Neid auf Kinderlose, über das Hadern mit Veränderungen, zerlegt den Begriff der „starken Frau“, verneint die Meinung, dass Kinder das Leben mit Sinn erfüllen. Auch vor Tabus schreckt sie nicht zurück: So tritt sie für ihr Recht als schwangerer Frau ein, weiterhin zu rauchen und zu trinken. Dazu mag man stehen, wie man will: Sie scheut sich jedenfalls nicht, provokant zu sein.
Sie wolle gegen Mütterbilder eintreten, schreibt Anna: „Die vom Hausmütterchen genauso wie die von der Party-Mom.“ Das gelingt ihr. Der Roman ist ein Plädoyer für Offenheit, Vielfalt – und für das Recht jeder Frau, weiterhin Individuum zu bleiben.
Anna Katharina Laggner: Fremdlinge. Roman. Residenz Verlag, Salzburg 2023. 208 Seiten, 24 Euro – www.residenzverlag.com