Maß aller Dinge: der bescheidene Mensch
BUCHBESPRECHUNG / LEOPOLD KOHR VERSTEHEN
03/05/22 Wenn der Grieche Protagoras recht hatte mit dem Postulat, der Mensch sei das Maß aller Dinge, dann ist es nach Leopold Kohr der Mensch, der auf nicht zu großem Fuß lebt. So einer gehört freilich nicht gerade zu den Mainstream-Repräsentanten unserer Zeit.
Aristoteles hat Menschen, die maßlos leben, für verrückt gehalten: Sie handeln unvernünftig und schaden damit nicht nur sich selbst, sondern auch der sozialen Gemeinschaft. Zweitausend Jahre später machte der Philosoph und Nationalökonom Leopold Kohr (1909-1994) diese Erkenntnis des Aritoteles zur Maxime seiner Überlegungen. Längst wissen wir, dass wir auf einem begrenzten Planeten mit begrenzten Ressourcen leben, doch die Ziele der Menschheit sind immerwährendes, unbegrenztes Wachstum. Denn maßlos gewordene Menschen gibt es immer und sie setzen alles in Bewegung um noch höher, noch schneller, noch größer und noch mächtiger zu werden.
Leopold Kohr hat das aus staatswissenschaftlicher und ökonomischer Perspektive betrachtet. Der Klimawandel war noch längst kein Thema, als er seine Hauptwerke schrieb, auch nicht das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten, der „Plastikplanet“ (wir haben den ganzen Planeten mit einer Hülle aus Plastikabfall bedeckt), die Zunahme der Armut vieler Menschen, und die noch hemmungslosere Ausbeutung der Naturressourcen bis in die entlegendsten Winkel der Erde. Die Allgegenwart des Internet und der (a)sozialen Medien war ebensowenig absehbar zu Lebzeiten Kohrs, eben so wenig der Umbruch in der Arbeitswelt.
Dem Nach- und Weiterdenken der Ideen von Leopold Kohr hat sich der Kulturverein Tauriska mit seiner Leopold Kohr Akademie verschrieben. Im Tauriska Verlag ist nur das Buch Leopold Kohr verstehen erschienen. Der Philosoph Günther Witzany hat Vorträge, Beiträge und Konzepte aus den letzten drei Jahrzehnten zur Philosophie Leopold Kohrs gesammelt, die im Auftrag von Alfred Winter und der Leopold Kohr Akademie verfasst wurden. Es geht also um Lösungsmodelle angesichts vieler Fehlentwicklungen auf der Basis der von Kohrs propagierten Rückbesinnung auf das menschliche Maß.
Günther Witzany studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Moraltheologie in Salzburg und München. 1985 gründete er die erste Philosophische Praxis in Österreich. Er entwickelte seit 1986 eine eigenständige Theorie der Biokommunikation, die als wichtigstes Merkmal von Lebewesen ihre Fähigkeit zu Kommunizieren nachweisen kann. Dadurch läßt sich ein maßvolles Verhältnis des Menschen zur belebten Natur gewinnen.
Einer jener, die sich immer wieder auf Kohr beziehen, ist der schwedisch-deutsche Publizist und Umweltaktivist Jakob von Uexküll (geb 1944). Sein Urteil über den Salzburger Hausphilosophen des überschaubaren Maßes: „Leopold Kohr ist der Wegweiser aus dem Irrweg des globalisierten Größenwahns.“ In diesem Sinne auch Günther Witzanys Beiträge: Wir müssen „auf Gedeih und Verderb aus den Fehlern der Vergangenheit“ lernen, und dabei sei keiner frei von Verantwortung. „Wer heute grenzenlose Freiheit will, schließt sich aus diesem existenziellen Lernprozess aus.“