Humor als Widerstand
BUCHBESPRECHUNG / MARYSE WOLINSKI
11/07/17 „‚Schatz, ich geh zu Charlie‘, ruft er einige Minuten später mit lauter Stimme vom anderen Ende der Wohnung.“ Maryse fällt auf, dass ihr Mann „früher weggeht als gewöhnlich, wenn er eine Redaktionskonferenz hat“. - Sie wird ihn nicht wieder sehen.
Von Christina König
Maryse und Georges Wolinski führen seit siebenundvierzig Jahren eine glückliche Ehe: Er hinterlässt ihr abends Liebes-Post-its in der gemeinsamen Wohnung und sie unterstützt ihn in seiner Karriere als erfolgreicher Comiczeichner. Eines Morgens geht Georges zur Arbeit und kommt nicht wieder zurück. Es ist der 7. Januar 2015. Georges arbeitet bei Charlie Hebdo.
„Schatz, ich geh zu Charlie“, das sind die letzten Worte, die Georges jemals zu Maryse sagt. Sie sind gleichzeitig der Titel des Romans, in dem Maryse Wolinski die Ereignisse des 7. Januars aufarbeitet.
In klarer, prägnanter Sprache rekonstruiert Wolinski diesen Tag, an dem eines der schlimmsten islamistischen Terrorattentate unserer Zeit stattfand und der ihr Leben und das so vieler anderer zerstört hat. Sie beginnt an ihrem letzten Morgen mit Georges, mit Plänen für eine Wohnungsbesichtigung am Nachmittag und mit ihrer beider Unwillen, die aktuelle Wohnung zu verlassen, deren Fenster auf die Platanen am Boulevard hinausgehen. Der bevorstehende Wohnungswechsel wird zur Metapher: Maryse muss nicht nur ihre Wohnung wechseln, sondern auch ihr Leben ändern. Von da an beschreibt sie neutral und dadurch umso eindringlicher den Ablauf des Attentats aus der Sicht von Zeugen und Überlebenden, vom Schauspieler und Regisseur Thomas, der den schwarzen Citroën C3 um 11:15 Uhr als Erster sieht, über die Zeichnerin Coco, die den Attentätern mit der Pistole an der Schläfe den Zugangscode zur Charlie-Redaktion geben muss, bis hin zu dem Taxifahrer, der Maryse die Nachricht vom Anschlag überbringt und ihr sagt, er würde für sie beten.
Die Autorin fängt die Fassungslosigkeit und den Zorn, den Schock und die Hilfslosigkeit ein, die dem Anschlag folgen, und drückt sie in Bildern aus, die mehr sagen als Worte, wie in dem Bild des Beteiligten, der seine Finger immer wieder in die brühend heiße Teetasse taucht, ohne mit der Wimper zu zucken.
Aber Wolinski beschreibt nicht nur das Attentat selbst, sie beschreibt auch, wie es dazu kommen konnte, und trägt Fakten zusammen: die elf Anrufe, die bei der Polizei eingegangen waren und trotz derer die Täter in die Redaktion eindringen konnten, die Drohungen, die Charlie erhalten hat, und die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen, die für die Mitarbeiter getroffen oder auch nicht getroffen wurden. In dieser nüchternen Aufzählung von Fakten tönt die Anklage nur umso lauter. Auch der Ironie der rekordverdächtig steigenden Verkaufszahlen von Charlie begegnet sie ganz nüchtern: „Wie kann man vergessen, dass die Journalisten und Karikaturisten ohne das Attentat heute wahrscheinlich arbeitslos wären.“
Aber am allermeisten ist der Roman eine Liebeserklärung: an das gemeinsame Leben, an Georges, an seine Kunst und seinen Humor, der ihn letzten Endes das Leben gekostet hat. Und Der Roman dokumentiert den Versuch der Autorin, ohne Georges weiterzuleben, ohne seinen Blick weiterzuleben, der sie so lange begleitet hat. „Faire son deuil“ bedeutet, Trauerarbeit zu leisten, und das ist es, was dieser Roman tut; er erzählt, wie Maryse Georges‘ Krawatten aufhängt, Einkaufslisten schreibt, die das enthalten, was ihrem Geschmack entspricht und nicht mehr Georges‘, und wie sie sein Zeichenbrett, das er auf einem Flohmarkt in Saint-Ouen erstanden hat, dem Internationalen Zentrum für Karikatur und Pressezeichnung vermacht. Irgendwie lebt sie weiter, und irgendwo findet sie Frieden: „Sie haben den Menschen getötet, aber nicht seine Gedanken.“