Wie man Zellen zum Tanzen bringt
BUCHBESPRECHUNG / REICHART / FRÜHSTÜCK BEI FORTUNA
21/11/16 „Ich liebe sie, aber sie darf nie erfahren, wie sehr; würde sie das Ausmaß meiner Liebe ahnen, wäre sie weg; sie würde das Land verlassen, die Erde, ich weiß nicht, wohin sie gehen würde, aber sie würde weggehen, unerreichbar weit weg...“ Elisabeth Reichart zieht mit dem ersten Satz in den Bann einer obsessiven Liebe.
Von Christina König
„Ich liebe sie, aber sie darf nie erfahren, wie sehr...“ Wer spricht hier? Zunächst Erik, der im Prolog und später auch im Epilog in der Ich-Perspektive zu Wort kommt. Er berichtet von seiner Liebe zur Protagonistin, die im gesamten Roman namenslos bleibt. Die Liebe wird erwidert, sie ist glücklich, erfüllt, euphorisch – und gleichzeitig geprägt von Eifersucht und Verunsicherung. Denn das Herz der Geliebten gehört nicht ihm allein. Er teilt es sich – nein, nicht mit einem anderen Mann, sondern mit Zellen.
Die Frau, die er liebt und aus deren Perspektive der Hauptteil des Romans erzählt wird, ist Stammzellenforscherin. Anders als ihre Kollegen spaltet sie allerdings keine Zellen, im Gegenteil, sie repariert sie. Wissenschaftlicher Ruhm, Geld, Anerkennung, das alles interessiert sie nicht. Sie möchte ganz in der Arbeit versinken, das tun, was sie liebt und für richtig hält, und noch genug Zeit für Spaziergänge im Wienerwald haben. Damit ist sie das Gegenteil von Erik, einem Karrieremenschen, für den die Arbeit nur Mittel zum Zweck ist und der die Natur und alle ihre Krankheitserreger hasst.
Noch einen Unterschied gibt es: Er möchte, dass sie zum ihm nach Berlin zieht. Endlich eine richtige Beziehung haben. Sie möchte in Wien bleiben. Keinem Mann mehr hörig sein, wie sie es ihrer ersten, inzwischen verstorbenen Liebe Leo war. Liebt sie die Zellen also mehr als Erik? Oder ihre Unabhängigkeit? Hat sie nach Leo zwar gelernt, Nein zu sagen, aber dafür das Ja-Sagen verlernt?
Elisabeth Reichart konfrontiert ihre Leser mit Spaltungen aller Art: Da sind nicht nur die Zellspaltungen, sondern auch die Spaltungen in der eigenen Persönlichkeit: Auf der einen Seite steht bei der Protagonistin das Bedürfnis, ungebunden zu bleiben, aber auf der anderen ist da doch ein Wunsch nach Nähe. Sind all ihre Zellreparaturen vielleicht letzten Endes der Versuch, diese beiden Seiten an ihr selbst zu reparieren und zu vereinen – nicht mehr länger zwiegespalten zu sein?
Aber auch Spaltungen in der Gesellschaft haben ihren Platz: Die Klüfte zwischen linken und rechten Parteien, zwischen In- und Ausländern werden thematisiert, als die Protagonistin voller Empathie zwei jungen Flüchtlingen helfen will, die ihr als unverheirateter Frau das Essen vor die Füße werfen und darauf spucken.
Reichart macht es sich und ihren Charakteren nicht zu einfach – nichts ist schwarz und weiß, alle diese Spaltungen werden in ihrer Mehrschichtigkeit und ganz klischeefrei beleuchtet. Sie verrät übrigens auch nicht, wie es ausgeht. Am Ende gibt es eine Veränderung – welche das ist, das bleibt unserer Phantasie überlassen. Aber was sie auch verrät oder nicht verrät, sie tut es in einer Sprache, die, in einem Wort, einfach schön ist: flüssig und leicht, öfter mal mit Ellipsen oder mit Schrägstrichen, und genauso lebendig, wie es die geliebten Zellen der Protagonistin sind. Sie bringt vielleicht die Zellen zum Tanzen – bei Reichart tanzen die Worte.